Zum Inhalt springen
Die Fachrunde desWissen-Chats
Legende: Christine Neresheimer, Matthias Rüst und Hanna Weinmann srf

Besser lernen in der Schule «Wieso wird heute immer noch so stark auf ‹Stoff› fokussiert?»

Christine Neresheimer, Matthias Rüst und Hanna Weinmann haben Ihre Fragen im «Einstein-Chat» beantwortet.

Fachpersonen im «Einstein»-Chat

Box aufklappen Box zuklappen

Dr. Christine Neresheimer
Fachpsychologin für Kinder- und Jugendpsychologie FSP
Abteilungsleiterin Primarstufe
Pädagogische Hochschule Zürich

Matthias Rüst
Geschäftsführer & Pädagogischer Leiter
Spezialisierung: Achtsamkeit in Schule, Bildung und Erziehung
MoMento Swiss

Hanna Weinmann
Dozentin PHZH im Bereich BE (Entwicklungspsychologie, Lernstrategien, ressourcenorientierte Pädagogik, Unterrichtsqualität, Beobachten/Beurteilen/Fördern)
Pädagogische Hochschule Zürich

Chat-Protokoll

Guten Tag, Schön, dass das Thema Schulqualität erkannt wurde. Ich habe es bei den letzten Wahlen sehr vermisst. Unser Sohn ist jetzt in der fünften Klasse. Und seit er in die Schule gekommen ist, plagt uns das sinkende Schulniveau, in einer schwierigen grossen Klasse (leider um 1 Kind zu klein, um geteilt zu werden) und mit einer immer grösser werdenden Leistungsspanne. Integration hin oder her. Jedes Kind hat ein Anrecht auf angemessene Beschulung. Nicht nur das untere Spektrum. (Integration leistungsbeeinträchtigter Schüler muss gut gemacht sein. Sonst verlieren alle.) Einem 8-jährigen zu sagen, dass seine schulische Entwicklung und sein Erfolg in seiner Eigenverantwortung liegt, ist einfach entwicklungspsychologischer Unsinn. Frage ist, wie kann man den jetzigen Kindern, für die alle zukünftigen Massnahmen zu spät kommen noch auffangen? Besten Dank

Christine Neresheimer: Kinder und Jugendliche (auch Erwachsene) lernen unterschiedlich schnell und intensiv. Es gibt vermutlich kein «zu spät» im Lernen. In Bildungsbiographien zeigt sich häufig, dass auch ein «schlechter» Start in die Laufbahn mit höherem Alter durchaus entwicklungsfähig ist. Es braucht ein für das Lernen gutes Setting, das kann im Extremfall auch erst im Erwachsenenalter stattfinden.

Wie finde ich heraus was für eine Prüfung relevant zum lernen ist und wie lerne ich effizienter? Und wie teile ich mir das lernen am besten ein, dass ich genug Zeit für Anderes habe und doch kein Stress?

Matthias Rüst: Das sind sehr wichtige Fragen und vielleicht auch schon der erste Schritt zur «Lösung». Womöglich kann ein MindMapping helfen, also alle Themen und Unterthemen frei aus dem Gedächtnis heraus aufzuschreiben und diese dann zu betrachten. Was sind wohl die wichtigsten Themen, und warum? Und bezüglich Einteilen: Etwas ausprobieren, zum Beispiel 30-45 Minuten lernen und dann kurz Sport treiben und nochmals 30 Minuten lernen. Wie fühlt sich es sich jetzt an? Indem Sie sich selber wahrnehmen und beobachten, können Sie lernen, wie sie am besten lernen. Denn jede Person lernt unter anderen Bedingungen am besten, die einen am Morgen, die anderen am Abend, mit kurzen oder langen Pausen, etc.

Welche Faktoren hemmen/fördern die intrinsische Motivation? Wie kann ich mein Kind zum Lesen motivieren? Vielen lieben Dank

Hanna Weinmann: Guten Abend, Danke für Ihre Frage. Intrinsische und extrinsische Motivation werden oft als Gegenspielerinnen gehandelt – im Sinne von gut und erwünscht oder schlecht und unerwünscht. Tatsächlich gibt es aber sehr unterschiedliche Spielformen der extrinsischen Motivation und diese kann sich auch nach und nach verlagern und zu intrinsischen Motivation werden. Es handelt sich also mehr um ein Kontinuum zwischen den beiden Ausprägungen. Sie fragen aber auch, wie die Motivation fürs Lesen gestärkt werden kann. Antolin – ein Leseförderungsprogramm in der Primarstufe – stellt z.B. eine Form der extrinsischen Verstärkung dar, das bei gewissen leistungsmotivierten Kindern sehr gute Anreize darstellen kann. Intrinsische Motivation könnten durch gemeinsames Leseerleben oder durch Kompetenzerleben beim Lesen geweckt werden. Ein Lesetagebuch könnte die Motivation ebenfalls unterstützen. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg!

Hallo Ich bin Ausland Schweizerin und Wir leben in Griechenland und unser Schulsystem ist ganz anders. Ein grosses Problem liegt darin, dass die Kinder drei Monate Urlaub haben im Sommer. Während den Sommerferien, wenn es heiss ist und alle am Baden sind und niemand gerne was macht (Erwachsene noch Kinder) ist es extrem schwer danach wieder in die Schule zu kommen und sich auf eine Sache zu konzentrieren. Meine Tochter ist neun Jahre alt, und ich sehe jedes Jahr grosse Schwierigkeiten darin, sie wieder in einen normalen Schulalltag Rhythmus zu bekommen. Sie zeigt grosse Schwierigkeiten, sich irgendwie konzentrieren zu können, nur schon für 30 Minuten sitzen bleiben zu können, um sich auf die Hausaufgaben zu konzentrieren bereitet ihr grosse Mühe. Wie kann man das machen? Was können wir tun? Die andere Frage ist auch ich bin allein erziehend und ich möchte, dass meine Tochter ihre Hausaufgaben alleine macht. Da ich Vollzeit arbeite bis um 18:00 -um18:30 Uhr Wenn ich fertig bin möchte ich dann nur noch eine Kontrolle machen und die Rechtschreibung mit ihr kontrollieren erwarte ich zu viel ? Erwarte ich zu viel, dass sie alles alleine machen soll? Und dass die Lehrerin sehr viele Hausaufgaben gib jeden Tag, jedes Wochenende und auch über die Ferien hilft auch nicht. Also von September bis Juni immer jeden einzelnen Tag was machen für die Schule. Die Kinder kommen nie zur Ruhe. Ausser volle drei Monate im Sommer. Wie kann ich das irgendwie aus balancieren?

Christine Neresheimer: Das griechische Schulsystem ist tatsächlich mit dem Schweizer Schulsystem nur bedingt zu vergleichen. Lange Sommerferien haben sich als nicht hilfreich für das Lernen von Kindern und Jugendlichen erwiesen, so Studien aus Europa. Den Effekt, den Sie schildern, ist auch in Italien sichtbar. Die andere Fragen betreffend Konzentration und Hausaufgaben: die Konzentrationsspanne von Kindern ist sehr individuell. Es ist schwierig für ein Kind in dem Alter, sich den ganzen Tag zu konzentrieren und sich dann auch noch alleine für Hausaufgaben zu motivieren. In der Schweiz gibt es die Möglichkeit von Hausaufgabenstunden, die von der Schule angeboten werden. Evtl. wäre das auch möglich in Griechenland. Wichtig ist, dass die Tochter spürt, dass Sie an ihrem Leben teilnehmen und nicht wie die Lehrperson nur noch kontrollieren. Vielleicht gibt es die Möglichkeit, mit der Schule eine gute Lösung zu finden.

Weihnachten naht und ich möchte meinem 11-jährigen Göttibueb etwas schenken, was seiner Konzentrationsfähigkeit hilft. Er lässt sich allgemein recht schnell ablenken und hat Mühe, bei Sachen zu bleiben, die ihn nicht so speziell interessieren. Gibt es da «pädagogisch wertvolles» Spielzeug oder besonders gute Games? Oder gibt es besonders gut geeignete Aktivitäten, die wir zusammen als «Göttitag» unternehmen könnten?

Christine Neresheimer: Fragen Sie Ihren Göttibueb was er gerne hat. Suchen Sie um das Thema herum eine Aktivität, die auch Ihnen Spass macht. Vielleicht gehen Sie zusammen klettern oder machen eine Velotour oder einen Ausflug in die Sternwarte. Je besser Sie ihn kennen, desto schneller kreisen Sie beide um das Thema, das ihn wirklich packt. Zu den meisten Themen gibt es coole Bücher (er kann ja schon ein bisschen Englisch, vielleicht will er es in dieser Sprache lesen) oder Filme oder Games. Vielleicht können Sie so auch seine Konzentration auf einen Lerngegenstand etwas fördern.

Wieso wird heute immer noch so stark auf «Stoff» und «Inhalte» fokussierte (s. einleitende Fragen)? Dabei sollte doch selbst gemäss LP der Erwerb von Kompetenzen im Vordergrund stehen. Fakten zu vernetzen, sie zu gewichten, zusammenzufassen, Entscheidungsgrundlagen zu schaffen und nicht Stoff zu absorbieren sollte doch im Vordergrund stehen. Die Inhalte stehen ja mittlerweile in mannigfaltiger Weise rasch und für jedermann zugänglich zur Verfügung. Klar, dass gewisse regeln (Math) erkannt und gelernt werden müssen oder neue Wörter (Franz/Engl/Ital/..) memoriert werden müssen, aber das sollte nicht der Hauptzweck der Schule sein!

Hanna Weinmann: Unter Kompetenz wird die Anwendung von Wissen und Können zur Bewältigung von Handlungsanforderungen verstanden. Wie Sie sehen, braucht es tatsächlich einiges an automatisiertem Wissen und Können, damit dieses Fertigkeiten schnell und routiniert beim Lösen von Aufgaben und Problemen angewendet werden können. Stellen Sie sich eine Gleichungsaufgabe vor, die es zu lösen gilt, aber die mathematischen Grundfertigkeiten kosten – weil nicht sattelfest trainiert – einiges an kognitiver Kapazität. Es ist also von grösster Wichtigkeit, dass zählen, rechnen, schreiben gut routiniert und wie von selbst stattfinden – auch um kompetent neue Probleme lösen zu können.

Meine Tochter (8) ist auf einer hausaufgabenfreien Ganztagsschule. Lernen findet mittels individualisierter Wochenpläne im Unterricht statt. Leider ist der allgemeine Lärmpegel wohl recht hoch, so dass meine Tochter oft nicht ins Arbeiten kommt bzw. sich nicht wirklich lange konzentrieren kann. Sie hängt dadurch den anderen hinterher und ist sehr langsam. Die LehrerInnen haben ihr jetzt die im Umfang reduzierten Förderhefte zum Arbeiten gegeben. Ich finde das jedoch nicht optimal. Sie ist intelligent und auch interessiert, hat jedoch in individuellen Arbeitsphasen kaum Erfolgserlebnisse. Wie können die LehrerInnen oder wir als Familie sie noch besser unterstützen?

Hanna Weinmann: Guten Abend, eine interessante Frage! In einer internen, nicht repräsentativen Befragung von Schüler:innen von der 1. bis zur 6. Klasse nannten spannenderweise fast die Hälfte der Kinder als Kriterium für guten Unterricht eine «ruhige Lernatmosphäre». Kinder wünschen sich also eigentlich gar nicht immer nur «Action»! Das ist ja auch im heutigen Beitrag sehr schön zu sehen, wie Ruhe und Achtsamkeit die Konzentration steigern können. Nicht auszuschliessen ist auch eine Geräusch(über)empfindlichkeit (Hyperakusis) ihrer Tochter. Da wird jedes Geräusch sehr intensiv wahrgenommen und führt zu Ermüdungserscheinungen. Ich rate Ihnen mit den Lehrpersonen ins Gespräch zu kommen und Lösungen zu finden. Der Einsatz von Noise Cancelling Kopfhörern wäre auch eine schnell praktikable Möglichkeit.

An Hanna Weinmann Sie war meine Lehrerin in der Sek. Sie war die einzige die an mich geglaubt hatte. Dank Ihr konnte ich in die Arbeitswelt Starten. Sie sagte mir was wirklich wichtig zum lernen ist für das Leben und was nice to have ist. Ich habe erst später den Knopf aufgemacht. Sie hat mir das nötige Selbstvertrauen gegeben! An Kinder glauben, Vertrauen, und Aufmerksamkeit schenken sehr viel Selbstvertrauen geben, Stolz sein. Und nun darf ich stolz auf Sie sein

Hanna Weinmann: Vielen Dank! Das freut mich sehr. Ein starkes Selbstvertrauen – das zeigt auch die Studie von Hattie – unterstützt den Lernerfolg fundamental. Kinder zu stärken und zu ermutigen und zuversichtlich bleiben finde ich ganz zentral.

Mich nimmt es wunder, wo solche Gehirntests in der Schweiz durchgeführt werden können?. Mein Sohn hat Schwierigkeiten die Aufmerksamkeit und Selbstkontrolle im Unterricht zu behalten. Danke

Christine Neresheimer: Es gibt diverse Forschungsinstitute in der Schweiz, die sich ebenfalls den in der Sendung gezeigten Fragen widmen. Dies geschieht häufig im Rahmen von Studien. Neuropsychologische Untersuchungen werden in spezialisierten Praxen, am Uni- oder Kinderspital durchgeführt. In der Regel ist der Kinderarzt, die Kinderärztin die erste Anlaufstelle für solche Fragen.

Ab welchem Alter macht ein Handy Sinn? Welchen Einfluss hat es auf das Kind?

Christine Neresheimer: Die Sprachentwicklung eines Kindes ist ungefähr im Alter von sieben Jahren so weit entwickelt, dass es auf einen sehr guten Level ist. Vielleicht wäre das ein Hinweis darauf, erst dann oder später mit dem Kind den schrittweisen Gebrauch eines Handys zu üben. Das Handy ist ein Medium, welches sehr viele, sehr spannende Dinge in sich vereint, es ist ein Telefon, ein Computer, ein Messband, etc., etc. Wenn das Handy ausschliesslich zum Gamen benutzt wird, dann ist es etwas anderes als wenn es nur zur Kommunikation benutzt wird. Damit verändert sich auch der Einfluss des Gerätes auf das Kind. Es braucht achtsame Erwachsene, die den Einsatz des Handys im Blick haben.

Matthias Rüst: Es gibt wohl kein fixes Alter, ab welchem ein Handy «Sinn» macht. Aber vor der 5. Klasse würde ich es nicht empfehlen. Viel wichtiger erscheint mir jedoch, dass Kinder ein Handy nicht einfach erhalten, sondern dass aktiv mit ihnen darüber gesprochen wird und Nutzen sowie auch Risiken offen angesprochen werden. Dabei sind wir Erwachsenen auch ein Vorbild. Also sollten wir schon bevor unsere Kinder ein eigenes Handy erhalten auf unsere eigenen Handy-Gewohnheiten achten.

Mich interessiert besonders der neurowissenschaftliche Aspekt vom Lernen. Im Beitrag wird das Lernvermögen erwähnt, was versteht man darunter? Gehört dazu wie gut oder wie schnell man neue Fähigkeiten und neue Fakten lernen kann? Wie wurde das Lernvermögen getestet und wie ist es erfassbar? Sind die drei Bereiche (Arbeitsgedächtnis, Planung und Selbstkontrolle) welche essenzielle Voraussetzung für das Lernvermögen von Kindern sind, ebenso relevant für Erwachsene (zum Beispiel nach erworbenen Hirnschädigungen)?

Christine Neresheimer: Lernvermögen kann unterschiedlich gemessen werden, zum Beispiel kann die «Speicherkapazität» oder die «Verarbeitungsgeschwindigkeit» oder die «allgemeine Intelligenz» gemessen werden. Je nach Test wird ein anderer Aspekt des Lernvermögens gemessen. Und ja, auch diese Aspekte sind für Erwachsene natürlich sehr wichtig. Vielen Dank für die Frage.

Wie wäre es Schach als Pflichtfach einzuführen durch Fachlehrer

Christine Neresheimer: Das ist eine interessante Frage. Grundsätzlich sollen in der Schule Dinge eingeführt werden, die viele Kinder und Jugendliche begeistern können. Vielleicht sollte es eine Schule einmal ausprobieren, die Einführung sehr gut evaluieren und daraus pädagogische Ideen weiterentwickeln.

Hanna Weinmann: Ich möchte hier anfügen, dass es eine lange Liste von Spielen gibt, die die Exekutiven Funktionen fördern ( Förderung und Erhaltung von Hirnfunktionen mit Gesellschaftsspielen , Ostschweizer Kinderspital). Ganz allgemein sind Spiele und Spielen im vielerlei Hinsicht kompetenzfördernd: sprachlich, mathematisch, sozial, etc.

Die Untersuchungsergebnisse aus den USA stimmen mich nachdenklich. Haben Kinder aus weniger vermögenden Familien hierzulande auch derart schlechtere Voraussetzungen?

Christine Neresheimer: Das Schulsystem in den USA ist sehr anders aufgebaut als das schweizerische Schulsystem. Studien zeigen, dass Kinder in der CH durch die Volksschule im internationalen Vergleich gut bis sehr gut gefördert werden. Wichtig ist, dass Schulen und alle an der Erziehung eines Kindes Beteiligten im Dialog sind und eine für das Kind gute (oder sehr gute) Lösung finden.

Guten Abend Ich bin Lehrperson und möchte gerne mit meinen SuS 5./6. Klasse an diesen Fähigkeiten arbeiten. Haben sie mir gute Quellen, wo ich Leitfäden und Umsetzungshilfen finde?

Matthias Rüst: Sehr schön, dass Sie dieser Beitrag von Einstein inspiriert hat. Es gibt viele Programme und pädagogische Materialien, welche Kinder und Jugendliche in der Entwicklung ihrer Lebenskompetenzen wie Selbstwahrnehmung und Selbstregulation unterstützen. Das MoMento Programm wäre sicher eines davon. Aber auch andere wie Denk-Wege, das Schulfach ICH, MindMatters oder Binja. Schauen Sie, mit welchem Ansatz Sie sich persönlich am meisten verbinden. Einfache Ideen wie die Glitzerflasche lassen sich aber auch ohne lange Erklärungen und Leitfäden umsetzen. Denn das Wichtigste ist der offene, ehrliche Austausch und auch Ihre persönliche Verbundenheit zu den Schülerinnen und Schülern.

Gibt es eine gute Antwort auf den Satz «das brauche ich später im Leben eh nie mehr»?

Christine Neresheimer: «Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.» Das hat der Philosoph Seneca schon vor rund zweitausend Jahren gesagt. Oder zurückgefragt: wer weiss schon, was man später im Leben wirklich brauchen wird?

Unser Sohn hat nicht so ein gutes Arbeitsgedächnis. Müsste das nicht heissen, das ihm alles was mit «sich etwas merken» zu tun hat schwer fällt und er viel Wiederholung braucht? Trotzdem lernt er gewisse Dinge immer wieder recht schnell (bsp: Zählen, Wochentage) und schnappt Dinge auf, die er, einmal/wenig gehört, plötzlich wiedergibt. Wie passt das zusammen? Welche Rolle spielt beim Arbeitsgedächnis das Interesse?

Hanna Weinmann: Das Gehirn ist plastisch, d.h. formbar, veränderbar, lernfähig. Das Arbeitsgedächtnis ist je nach theoretischem Ansatz ein eigenes System oder ein aktivierter Teil des Langzeitgedächtnisses. Gerade beim zweiten Ansatz steckt die gute Nachricht drin, dass wenn ihr Sohn zu einem Thema viel weiss, er neues Wissen schneller und gründlicher mit seinem Vorwissen verbinden und verknüpfen kann. Mit anderen Worten: Lernen lohnt sich! Wer viel weiss, kann besser Neues lernen.

+++ Wieso werden die wirksamen Methoden welche im Beitrag gezeigt werden nicht in viel mehr Schulen durchgeführt? Eine Bemerkung für Lehrpersonen und Eltern von Kindern mit Lernschwierigkeiten oder Mühe mit Selbstkontrolle: es gibt PsychologInnen, welche auf diese Thematik spezialisiert sind und Lerncoachings anbieten und in Lernpraxen arbeiten. Zudem kann es für das Kind sinnvoll sein, ergotherapeutische Behandlung zu beginnen. Dafür kann der/die Hausärztin zunächst eine Verordnung für eine Abklärung in der Ergotherapie ausstellen. +++

Dr. Manfred Spitzer hält digitale Medien für absolut schädlich in Bezug auf die Lernfähigkeit von Kindern und Jugendlichen. Wie gravierend sehen Sie diesen Einfluss? Inwieweit müssen wir unsere Kinder vor digitalen Geräten schützen?

Matthias Rüst: Ich denke, alles muss irgendwie abgewogen werden. Auch Manfred Spitzer fügt an, dass eine gewisse Zeit pro Tag mit digitalen Inhalten zu einem Lernzuwachs führen kann, wenn sie richtig eingesetzt wird. Wichtig ist also vor allem die «Dosis» und wie die Kinder an die Digitalität herangeführt werden. Wenn Kinder überhaupt keinen Zugang zu digitalen Medien haben, werden sie irgendwann sozial abgehängt, was für ihre Entwicklung sicherlich auch nicht förderlich ist. Und zudem gehört die digitale Welt mittlerweile zu unserer «normalen Welt». Statt den Kontakt mit ihr gänzlich zu vermeiden sollten wir einen geschickten Umgang damit üben. Das setzt voraus, dass wir als Erwachsene präsent sind, nicht als Polizisten, sondern als interessierte Begleiter von Kindern, welche diese Welt entdecken und – spätestens als Jugendliche – ebenfalls geschickt darin navigieren müssen…

Einstein, 09.11.2023, 21:05 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel