Jeff Tomlinson war vier Jahre erfolgreich Headcoach in der höchsten Schweizer Eishockey-Liga, obwohl er seit einem Augeninfarkt fast blind ist. Jetzt hat er seine Geschichte niedergeschrieben.
SRF: Sie haben sich kürzlich geoutet und gesagt, dass Sie fast nichts mehr sehen. Wie fühlen Sie sich heute?
Jeff Tomlinson: Es ist gut, dass nun alle Bescheid wissen und ich authentisch sein kann.
Ihre Krankheitsakte ist enorm: Spielerkarriere beendet wegen Knieproblemen, Herzinfarkt, Nierentransplantation, Sehnerv-Infarkt. Fragten Sie sich: Warum immer ich?
Es gab viele Rückschläge, und bei meinem Sehproblem dachte ich teils, ich schaffe es nicht mehr.
Gab es Selbstmordgedanken?
Ja. Ich wollte meiner Familie nicht als Pflegefall zur Last fallen.
Auch Momente des Selbstmitleids?
Ganz viele! Aber irgendwann dachte ich: Mein Leben war stets cool – vielleicht ist das jetzt das Gegengewicht. Und heute finde ich: Das Leben ist immer noch schön.
Mussten Sie die letzten Jahre auch lügen?
Oft. Das war unangenehm und brachte noch mehr Stress, als ich eh schon hatte.
Aber zu Hause waren Sie immer ehrlich?
Ja. Meine Frau war bei den Tests dabei und am Boden zerstört, was ich alles nicht mehr sehen konnte.
Wie schwer war es, Hilfe anzunehmen?
Ich hatte zu knabbern.
Warum wollen Sie keinen Blindenstock?
Vielleicht bin ich noch zu stolz.
Empfinden Sie Wut?
Nein! Ich habe es immer noch viel besser als andere.
Wie reagieren die Leute jetzt auf Sie?
Oft sagen sie bei der Begrüssung ihren Namen. So schaffen wir es als Zusammenarbeit, ins Gespräch zu kommen, ohne dass ich tun muss, als wüsste ich, wer sie sind.
Manche hielten Sie für arrogant, weil sie übersehen wurden.
Das tat sehr weh und ich konnte es kaum erwarten, nicht mehr so zu wirken.
Wie viel sehen Sie noch?
Meine Welt ist dunkel und milchig. Alles ist sehr unscharf, ich erkenne nur Umrisse. Licht und Kontrast helfen mir. In Prozent lässt es sich nicht sagen. Ich habe auch viele blinde Stellen.
Wie coacht man fast blind ein Hockey-Team?
Ich hatte viele Helfer im Staff und musste noch stärker eine Vertrauensbeziehung zu den Spielern aufzubauen.
Sie schreiben im Buch: «Ich feiere Treffer, die ich nicht gesehen habe und frage mich, was ich dem Team in der Garderobe sage.»
Es war eine dunkle Zeit. Ich musste den Gute-Laune-Onkel spielen und den Spielern auf die Schulter klopfen.
Als wären Sie ein Hochstapler?
Auf jeden Fall. Eigentlich bin ich offen, aber damals war das ganz anders.
Wer etwas verheimlicht, wird innovativ. Auch Sie?
Ich habe viel getrickst, und leider musste das auch mein Umfeld tun. Alle sind erleichtert, dass es kein Tabuthema mehr ist.
Visuell sehen Sie ihre Töchter nicht aufwachsen.
Tatsächlich war es für mich der absolute Tiefpunkt, als ich erstmals das Gesicht meiner Tochter nicht sehen konnte. Ich dachte: Nie werde ich mitbekommen, wie hübsch sie ist. Das war schwer zu verkraften. Mittlerweile gehe ich besser damit um.
Haben Sie auch etwas dazugewonnen?
Ich kann über eigene Fehler schmunzeln und habe mehr Geduld für andere.
Schauen Sie noch Hockey im Stadion?
Absolut. Und es ist schön. Ich geniesse die Atmosphäre. Hockey zu hören, ist für mich eine vorzügliche Therapie.
Ist ein erneuter Job im Hockey denkbar?
Nicht in der alten Intensität. Aber ich berate derzeit Nachwuchstrainer und entwickle Referate.
Was würde der junge Jeff Tomlinson zum heutigen Jeff sagen?
Gut, dass du die Kraft hattest, da durchzugehen.
Das Gespräch führte Urs Gredig.