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Aufwachsen ohne Vater Was fehlt, wenn der Vater geht?

Was bedeutet es, wenn ein Kind einen Elternteil kaum kennt? Zwei Betroffene erzählen, eine Psychologin erklärt.

Die Kleinfamilie mit Vater, Mutter und Kind(ern) ist heute nur eines von verschiedenen Modellen des Zusammenlebens. Oft wachsen Kinder bei einem Elternteil auf, in Patchworkfamilien, in unterschiedlichen Konstellationen.  

Die Psychotherapeutin Erica Brühlmann-Jecklin sagt, wenn ein Elternteil fehle, könne das zum Beispiel dann zum Problem werden, wenn das Kind belogen wird und keinen Kontakt zum abwesenden Elternteil pflegen darf oder kann. Belastend kann auch ein Umfeld sein, das dem Kind vermittelt, es lebe in einer unvollständigen Familie. Dass Mütter abwesend sind, kommt vor, häufiger ist es der Vater, der für das Kind unerreichbar und fremd ist.

Paula (34): «Über meinen Vater wurde nie gesprochen»

Als ihr Vater starb, war Paula zehn. Die heutige Informatikerin hat ihn nie kennengelernt, kennt nur seinen Namen und weiss, dass er «reich» war. «Über meinen Vater wurde nie gesprochen. Er war ein Tabu. Ich durfte das Thema Aussenstehenden gegenüber nicht ansprechen.» Ausser ihrer Mutter kannte den Vater niemand.

Erst im Kindergarten wurde Paula klar, dass bei ihr etwas anders war. «Die Kindergärtnerin hat immer wieder betont, dass alle Kinder einen Vater hätten – ausser ich.» Als die Sechsjährigen vom Beruf des Vaters erzählen sollten und Paula von der Arbeit ihrer Mutter berichten wollte, habe die Kindergärtnerin gesagt: «Sei still! Es geht um den Beruf des Vaters.»

Kinder sitzen in einem Kreis, einige strecken auf.
Legende: Im Kindergarten wurde Paula bewusst, dass ihre Familie anders war. Keystone

Man habe ihr nicht die Möglichkeit gegeben, sich normal zu fühlen. Die Kindergärtnerin habe ihr deutlich gemacht, dass Paula und ihre Mutter sich schämen sollten – und dass ihnen etwas fehle. «Auch wenn uns ohne diesen Druck gar nichts gefehlt hätte.»

Den neuen Namen aufgezwungen

Als Paulas Mutter einen neuen Partner fand und heiratete, begann für das Mädchen ein neuer Lebensabschnitt. Sie musste gegen ihren Willen den Namen des Stiefvaters annehmen. «Wenn ich seinen Namen nicht annehme, müsse ich weg und bei meinen Grosseltern leben», hätten ihr Stiefvater und Mutter kurz nach der Einschulung mitgeteilt.

Ihre zwei jüngeren Halbgeschwister seien perplex gewesen, als sie erfuhren, dass ihr Vater nicht auch der von Paula ist. Für sie selbst sei das immer präsent gewesen. Ihre Mutter aber habe einfach vergessen wollen. Sie wollte nicht mehr ausgeschlossen sein.

«Bis etwa 30 hatte ich grosse Angst davor, wer ich wirklich bin – weil ich von jemandem abstammte, über den nicht oder nur schlecht gesprochen wurde. Wenn ich mich als Kind schlecht benahm, sagte die Mutter: ‹Das hast du vom Vater.›»

Kinder gehen hinter einem Mann durch eine Wiese.
Legende: Die Halbgeschwister verstanden nicht, warum Paula einen anderen Vater hat. Imago

Schichten der Verleugnung

Wegen ihrer Herkunftslosigkeit sei Paula immer wieder von anderen geplagt worden. Ihr sei klargemacht worden, dass ihr etwas fehle, dass das nicht gut für sie sei. Die Folge: «Ich konnte mich nicht finden, war getrieben. Ich war während zehn Jahren immer wieder in Therapie, um eine andere Sicht auf das Leben zu entwickeln. Herkunft und Geschichte standen da immer im Vordergrund.»

Paula musste, wie sie sagt, «viele Schichten der Verleugnung abstreifen», um zu sehen, dass in ihr nichts Schlechtes war. Nur so konnte sie hinsehen und erkennen, dass sie eine eigenständige Person sei, die ein eigenes Leben führen darf.

Ihre Familiengeschichte sei nicht normal, sagt Paula heute, «es ging mir darum, mich selbst zu finden. Das Wissen über meine Herkunft erlaubt mir, besser zu wissen, wo ich hingehe».

«Ich darf sein, wer ich bin»

Kennenlernen kann Paula ihren Vater nicht mehr, weil er seit 24 Jahren tot ist. Doch vor einigen Wochen hat sie Zeitungsartikel mit Zitaten von ihm gefunden. Dass sie sich darin wiedererkannt habe, habe sie berührt: «Ich komme nicht von einem schlechten Menschen. Ich darf sein, wer ich bin. Ich habe eine Geschichte.»

Wenn Paula sich umsieht, stellt sie fest: «Wenn ich heute die modernen Väter sehe, diese Patchworkfamilien, wie sorgfältig und liebevoll sie mit Kindern umgehen, tut mir das gut. Das ist sehr schön.»

Daniel (43): «Mein Vater hatte keine Zeit»

Daniels Eltern liessen sich scheiden, als er zwei Jahre alt war. Als Kind fuhr er zwei-, dreimal im Jahr für einige Tage zu seinem Vater in eine andere Stadt. Markus, wie Daniel seinen Vater nannte, hatte eine neue Familie gegründet, innert weniger Jahre kamen vier Halbbrüder zur Welt.

«Ausser ein bisschen aufgesetzten Telefonterminen hatten wir keinen Kontakt», sagt Daniel, der heute als Lehrer arbeitet. «Es war komisch, mit jemandem zu telefonieren, den man nicht aus dem Alltag kennt.» Markus und er hatten sich nichts zu sagen, Vertrauen konnte nicht entstehen.

«Mein Vater hatte keine Zeit, keinen Raum und keine Möglichkeit, mir die Aufmerksamkeit zu geben, die ich mir wünschte. Er fragte mich nie, wie es in der Schule oder im Sport geht.» Der Vater sei immer in seiner eigenen Welt gewesen. Daniel sei stets zu ihm gefahren, der Vater nie zu ihm.

Manchmal habe ihm der Vater gefehlt, sagt Daniel. Beispielsweise hätte es ihm gefallen, wenn ihm der Vater gezeigt hätte, wie man das kaputte Velo flickt. Auch später hätte er ihn gerne um Rat gefragt, beim Rasieren etwa oder in Sachen Ausbildung. «Wenn ich unsicher war, hätte er da sein müssen.»

Junge auf einem Fahrrad.
Legende: In manchen Situationen wäre Daniel um den Rat seines Vaters froh gewesen. Imago

Am schlimmsten war für den kleinen Daniel, dass der Vater seinen Geburtstag mehrmals vergass. «Dann war meine Angst vor dem Geburtstag so gross, dass sie die Vorfreude fast überstrahlt hat.»

«Was tut ihr uns an?»

Weil ihm sein Vater nicht Vorbild sein konnte, suchte Daniel anderswo Unterstützung und Orientierung: im Sport bei Trainern und Kollegen, im Arbeitsleben bei den Vorgesetzten.

Dass sich seine Eltern nicht mehr sehen wollten, führte zu bizarren Situationen, wie beim Schulabschluss von Daniels älterer Schwester. «Das war der erste Anlass im Leben, bei dem in meiner Wahrnehmung beide Eltern im gleichen Raum waren. Sie sassen weit auseinander und wechselten kein Wort.»

Das habe ihn beschäftigt, er sei böse gewesen: «Was tut ihr uns an, indem ihr keine Rücksicht nehmt?»

Feilschen um Kleidergeld

Mit 18 lief die Alimenten-Vereinbarung aus. Da meldete sich der Vater mit der Aufforderung, Daniel solle sein Budget zusammenstellen. Daniel war verletzt: «Ich dachte: ‹Jetzt, wo es ums Geld geht, interessierst du dich plötzlich.›»

Daniel liess sich finanziell beraten und unterbreitete die Zahlen seinem Vater. «Nun ging es um die Frage: Ist bei einem 18-Jährigen ein Kleiderbudget von 80 oder 100 oder 120 Franken angemessen? Mit meinem Vater verhandeln zu müssen, hat emotional viel kaputtgemacht. Es war schmerzhaft, mit ihm die Ausgaben Position für Position auszuhandeln.»

Daniel wandte sich an eine Psychotherapeutin, um sein Verhältnis zum Vater zu klären. Auf ihren Rat hin schrieb er ihm einen Brief, in dem er schilderte, wie er sich im Stich gelassen fühlte. Das seien «massive Vorwürfe», lautete die Antwort.

«Mein Vater war überfordert», sagt Daniel, «meine Erwartungen an ihn waren viel zu hoch». Damals sei ihm klar geworden, dass die klassische Familie auch bei anderen nicht funktioniere.

Aussprache im Spital

Mit 28 arbeitete Daniel im Ausland. Eines Morgens rief ihn ein Onkel an: «Dein Vater wird nicht mehr lange leben. Überleg dir, ob du ihn noch einmal sehen willst.» Der Anruf wühlte Daniel auf. Spätnachts buchte er den ersten Morgenflug.

Sein Vater lag auf der Intensivstation im Sterben. «Es war die allerletzte Möglichkeit, uns zu begegnen und die Wahrheit auf den Tisch zu legen.» Das Gespräch verlief gut, der Vater sei behutsam und stark gewesen. «Er hat gesagt: ‹Gell, wir hatten es nicht so gut, seit wir uns kennen.›»

Spitalbett.
Legende: Erst kurz vor dessen Tod konnte sich Daniel mit seinem Vater aussprechen. Keystone

Daniel erzählte ihm, wie er alles erlebt hatte. «Das Gespräch hat vielleicht eine halbe Stunde gedauert. Danach bin ich hinausgegangen, weil ich das emotional sehr anstrengend fand. Zwei Stunden später ist er gestorben.»

Aus heutiger Warte sagt Daniel, er habe die Gelegenheit genutzt, sich auszusprechen. «Für mich gab es in diesem Moment keine Fragen mehr zwischen uns.»

Seit drei Jahren ist Daniel selbst Vater. Die Betreuung des Sohnes teilt er mit seiner Frau. Er mag es, Vater zu sein, und achtet darauf, nicht zu viel von der Beziehung zu seinem Sohn zu erwarten. «Ich will ein anderer Vater sein als meiner. Ich will nicht dieselben Fehler machen. Ich nehme es als Geschenk.»  

Lebenslange Fragen

Die Herkunft beschäftigt wohl alle Menschen, sie ist ein essenzielles Lebensthema. Viele, die zu einem Elternteil keinen oder kaum Kontakt hatten, nehmen eines Tages psychotherapeutische Hilfe in Anspruch. Sie wollen Klarheit gewinnen: Wer bin ich? Woher komme ich? Was erwarte ich vom Leben, von meinen Bezugspersonen? Wer kann mir Orientierung bieten und mir in schwierigen Situationen zur Seite stehen?

Das Aufwachsen ohne Vater muss nicht in jedem Fall problematisch verlaufen, sagt die Psychotherapeutin Erica Brühlmann-Jecklin. Wenn ein Kind nicht belogen werde, wenn es geliebt und ihm Grenzen gesetzt werden, sei Vaterlosigkeit kein Problem. Die wachsende gesellschaftliche Akzeptanz für andere Formen des Zusammenlebens nehme zusätzlich Druck weg von den Kindern, die lediglich mit einem Elternteil gross werden.

SRF 2 Kultur, Kontext, 25.3.2022, 09:03 Uhr

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