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Aufwachsen ohne Vater «Wenn ein Kind geliebt wird, kann es gedeihen»

Viele Menschen, die ohne Vater aufgewachsen sind, tun sich mit diesem Umstand schwer. Dabei wäre Vaterlosigkeit kaum ein Problem, wenn sich die Erwachsenen an einfache Prinzipien hielten, sagt die Psychotherapeutin Erica Brühlmann-Jecklin. In ihrer Praxis arbeitet sie überwiegend mit Kindern, häufig auch mit solchen, die mit einem Elternteil leben.

Erica Brühlmann-Jecklin

Psychotherapeutin

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Erica Brühlmann-Jecklin ist Psychotherapeutin mit eigener Praxis in Schlieren. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählt die Einzeltherapie mit Erwachsenen und Kindern. Brühlmann-Jecklin sagt, dass ein grosser Teil der Erziehung aus den Werten Liebe und Grenzen besteht.

SRF: Stimmt es, dass Kinder häufiger ohne Vater als ohne Mutter aufwachsen?

Erica Brühlmann-Jecklin: In der Anzahl sicher. In meiner Praxis habe ich auch Kinder, die ihre Mutter nicht mehr haben, diese leiden auch sehr.

Dramatisch finde ich es, wenn ein Kind nicht wissen darf, wo die Mutter ist und wie es ihr geht, obwohl das ein kinder- und jugendpsychiatrischer Dienst weiss, den Datenschutz aber höher wertet als das Recht des Kindes, das in der Kinderrechtskonvention der UNO, die auch von der Schweiz ratifiziert wurde, verbürgt wäre.

Was fehlt dem Kind, wenn der Vater oder die Mutter mit ihm nichts zu tun haben will?

Man kann nicht generell sagen, dass einem Kind dann etwas fehlt. Das grosse Problem entsteht, wenn ein Kind angelogen wird. Wenn es Dinge nicht weiss, die es wissen müsste und auch das Recht hätte, sie zu erfahren. Wenn das Kind die Wahrheit kennt und man offen mit ihm spricht, kann es damit umgehen, dass ein Elternteil weg ist.

Wie wirkt es sich aus, wenn ein Kind verheimlichen muss, wer sein Vater ist?

Dann kann bei einem Kind das Gefühl aufkommen, es sei nicht normal, bei ihm stimme etwas nicht. Wenn es nicht offen darüber sprechen darf, beginnt das Problem.

Ich erinnere mich an eine Szene, die mein Mann und ich während der Primarschulzeit unserer Kinder erlebt haben. Unser Sohn kam in die vierte Klasse und die Lehrerin liess alle Kinder ihre Eltern vorstellen. Ein Kind hat selbstverständlich gesagt: «Das ist meine Mutter, das ist ihr Freund, das ist mein Vater, und das ist seine Freundin.»

Das Kind ist unbeschadet durch die Kinderzeit gekommen. Das war einfach eine neue Variation. Die Bezugspersonen haben offen mit den Kindern gesprochen. Und sie hatten Frieden. Das ist absolut zentral.

In einem gesellschaftlich offeneren Klima ist es also weniger ein Problem, wenn ein Elternteil weg ist?

Es ist überhaupt kein Problem, wenn man mit den Kindern offen spricht. Da hat sich in der Gesellschaft in den letzten 20 Jahren viel Gutes getan.

Wenn ein Kind seine Herkunft kennt und geliebt wird – egal, ob von zwei Müttern, zwei Vätern oder von Vater und Mutter – wenn es aber auch die Grenzen kennenlernt und man mit ihm ehrlich ist und Frieden herrscht, kann es gedeihen wie eine Blume in einem guten Klima.

Wir brauchen Zuneigung, Wertschätzung, Liebe und Grenzen. Nicht nur die Kinder, auch wir Erwachsenen.

Wer kann einem Kind diese Haltung vermitteln?

Es ist wertvoll, wenn Mädchen auch weibliche Identifikationsfiguren haben, Jungen auch männliche. Aber es müssen nicht Mutter oder Vater sein. Oft kann ein Lehrer einem Jungen zeigen, wie er durchs Leben gehen kann, oder eine Musiklehrerin oder sonst jemand.

Ich sehe gern dieses Bild vor mir: Wir sind auf dem Weg, und am Wegrand sind Menschen, die uns begleiten. Das können Mütter, Väter, Geschwister, Onkel, Tanten, Grosseltern oder andere Menschen sein. Wenn sie dem Kind Vorbild sind und Wertschätzung geben, können sie auch als Identifikationsfigur dienen.

Natürlich gibt es dieses Bild einer heilen Familie. Aber wer glaubt heute noch an diese Art von heiler Familie? Ich verstehe darunter eben Wahrhaftigkeit, Liebe, Grenzen und Frieden.

Kind geht draussen eine Treppe herunter, auf der mit Kreide Herzen gezeichnet sind.
Legende: Liebe und Grenzen können einem Kind nicht nur von Mutter und Vater vermittelt werden, sagt Erica Brühlmann-Jecklin. Imago

Für die Menschen, die ich zum Thema «Vaterlosigkeit» befragt habe, ist die Herkunft ein essenzielles Thema, das sie jahrzehntelang beschäftigt hat. Praktisch alle haben eine Psychotherapie gemacht.

Die Herkunft sollte bekannt sein. Aber Psychotherapie? Ich vermute, dass sich das ändern wird. Oft sind das Leute, die in den 50er-, 60er-, vielleicht noch 70er-Jahren Kind waren. Da hatte man noch die Vorstellung, wie eine Familie sein muss.

Heute ist man grosszügiger und weiss: Wir Menschen sind soziale Wesen. Wir brauchen Zuneigung, Wertschätzung, Liebe und Grenzen. Nicht nur die Kinder, auch wir Erwachsenen. Wenn das gesichert ist, glaube ich nicht, dass es ein Problem ist, nur mit einem Elternteil aufzuwachsen.

Das Gespräch führte Raphael Zehnder.

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 25.3.2022, 9:03 Uhr ; 

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