Selten gab es ein traurigeres Bühnenbild. Eine Laterne beleuchtet fahl eine Kapelle und drei winzigen Häuschen. Eng ist es auf dieser Puppenstubeninsel namens «Tristesses» mit ihrem achtköpfigen Völkchen.
Der joviale Bürgermeister und seine weinerliche Frau spielen mit zwei stumpf dreinblickenden Teenies Karten. Der schmierige Pfarrer mag lieber am Bier nippen als Predigten vorbereiten. Die Hosen hat Frau Pfarrer an. Einen Mosesbart trägt der ehemalige Parteipräsident und stolziert über die Insel. Allerdings hängt am Fahnenmast seine Frau, tot und in die dänische Flagge eingewickelt.
Ein Raubtier vom Festland
Wie es dazu kommen konnte, welche menschlichen Verstrickungen und geschäftlichen Deals hinter dem scheinbaren Selbstmord stecken, daran reiben sich die aggressiven oder depressiven Inselbewohner zwei zähe Stunden lang auf.
Denn Idas Tochter (gespielt von Regisseurin Anne-Cécile Vandalem), die als Geschäftsfrau und radikale Politikerin auf dem Festland erfolgreich ist, hat die Strippen in der Hand. Sie kommt in hochhackigen Stiefeln angereist, ihr Gang gleicht dem eines Raubtieres.
Live-Übertragung per Kamera
Der Plot erinnert an Dürrenmatts «Besuch der alten Dame». Hier tritt eine Frau auf, die sich die Macht mit Geld erkauft. Allerdings fordert sie hier nicht Gerechtigkeit, sondern treibt mit politischen Parolen, wirtschaftlichem Kalkül und eiskalter Miene die Insel in den Ruin.
Die belgische Regisseurin Anne-Cécile Vandalem und ihre Kompanie bringen den Krimi über Profitgier, Angstmache und Ausbeutung in erdrückenden Bildern auf die Bühne. Was sich innerhalb der Häuschen – den Keimzellen dieser Verlierergesellschaft – abspielt, wird per Kamera live auf eine grosse Leinwand projiziert.
Beklemmende Atmosphäre
Verlogen tränenreich ist etwa die Abdankungsfeier von Ida in der winzigen Kapelle. Danach marschiert die Minigemeinde im Stechschritt durch die Kulissen und zielt wechselweise mit einer Flinte auf die nächtlichen Sterne. Dass sie diese Flinte schon bald gegeneinander richten werden, ist absehbar.
Das multimediale Stück «Tristesses» ist von Anfang an in so beklemmender Atmosphäre gefangen, dass sich keine weitere Spannung aufbauen kann. Da können sich die Livemusiker, die notorisch als weissgepuderte Untote über die Bühne schlurfen, noch so ins Zeug legen und Thrillersound absondern. Zu schleppend ist das Erzähltempo in den einzelnen Szenen.
Zu kalkuliert, zu kalt und abgezirkelt
Hinzu kommt, dass die Aufmerksamkeit von der Leinwand vollständig aufgesogen wird. Dass das Publikum hier gleichzeitig dem Dreh eines Propagandafilms beiwohnen soll, bleibt dabei eine dramaturgische Behauptung.
Der technische Aufwand und das schauspielerische Können sind zweifellos hoch. Doch fördert genau dies auch den zwiespältigen Eindruck von einer menschlichen Hölle in Puppenstubenformat. Zu präzis kalkuliert, zu kalt und abgezirkelt wirkt «Tristesses», als dass man hier das Fürchten vor den – eigenen – niederen Instinkten lernen könnte.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 19.08.2017, 17:22 Uhr