Tell ist derzeit omnipräsent: 2012 wurde beispielsweise das Buch «Wilhelm Tell. Realität und Mythos» von Jean-Francois Bergier aus dem Jahr 1988 neu aufgelegt. Zwar ist der Ansatz dieser Studie aus historischer Sicht überholt. Niemand versucht heute mehr, die historische Realität von Wilhelm Tell zu rekonstruieren, wie das Bergier noch tat. Eine spannende Geschichtslektüre bleibt diese «Tell-Biografie» dennoch.
Traditioneller Tell in Interlaken
Und auch auf dem Theater gibt es sie noch, die traditionelle Tellsgeschichte. Am prominentesten in Interlaken, wo diesen Sommer zum 100. Mal die Tell-Spiele stattfanden. Hier wird Friedrich Schillers Drama «Wilhelm Tell» aus dem Jahre 1804 jedes Jahr als grosses Freilichtspektakel inszeniert.
Hier ist Wilhelm Tell so, wie wir ihn kennen: Der Held, der sein Leben für Recht und Freiheit aufs Spiel setzt und dafür auch einen Tyrannenmord nicht scheut. Hier sind all die geflügelten Worte zu hören, die aus diesem Theaterstück in unseren Sprachschatz eingeflossen sind.
Walter als wimmernder Junge
Im Gegensatz zu Bergiers Tell-Studie und zu den Tell-Spielen in Interlaken gehen viele Theaterbühnen freier um mit dem Thema. Das Theater Neumarkt in Zürich beispielsweise hat Schillers Drama kurzerhand für ein jugendliches Publikum umgeschrieben und mit einem Augenzwinkern von Schulstaub befreit.
«Wilhelm Tell, das Original» heisst ganz unbescheiden diese Version des deutschen Punk-Musikers und Autors Jens Rachut und des Schweizer Regisseurs Raphael Sanchez. Beide zusammen entrümpeln den Tell-Mythos. Hedwig nimmt das Zepter in die Hand und Walter ist nicht der unerschrockene Bub der Legende, sondern ein panisch wimmernder Junge, der um sein Leben fleht.
Kasperli meets Wilhelm Tell
Im Figurentheater Gustavs Schwestern im Zürcherischen Kollbrunn treffen der Held Tell und der Anti-Held Kasperli aufeinander. «Wilhelm Kasperli Tell» heisst die Inszenierung, in welcher die Frauen darüber diskutieren, ob Tell nun ein Traummann sei oder ein langweiliger, verstockter Bergler.
Eine solche Degradierung des Nationalhelden wäre noch vor einigen Jahrzehnten undenkbar gewesen. Doch mittlerweile haben Helden wie Wilhelm Tell einen schweren Stand.
Das Wort haben auch hier seine Frau Hedwig und sein Sohn Walter. Walter wird von Kasperli gespielt. Dieser zittert vor dem Apfelschuss so jämmerlich, dass Tell gar nicht schiessen kann und seine Schüsse schliesslich alle daneben gehen.
Man schiesst nicht auf seinen eigenen Sohn!
Den stärksten Effekt rund um den Mythos Tell schafft der Blick von ausserhalb der Schweiz: Aus Anlass des Jubiläums «500 Jahre Tellspiele in Altdorf» hat sich die freie Schweizer Theatergruppe mass&fieber mit der Theatergruppe Don Quixote aus Teheran zusammengeschlossen.
«Tell/Zahhak» heisst das Projekt. Es ist ein iranisch-schweizerischer Mythentausch. Hier geschieht, wie der Historiker Guy Marchal in der Sendung «Reflexe» bemerkt, das Unglaubliche: Hedwig verstösst Wilhelm Tell. Sie kann und will nicht mehr mit einem Mann zusammensein, der auf seinen Sohn schoss, der also das Leben ihres gemeinsamen Kindes aufs Spiel setzte.
Der Mythos Wilhelm Tell wird heute auf eine ganz neue Art kritisch in Frage gestellt. Gerade moderne theatralische Adaptionen fokussieren darauf, was Tell mit seinem Handeln anstellt oder anstellen könnte, seine Rücksichtslosigkeit in Bezug auf die eigene Familie. Heutige Helden sind jedenfalls ganz anders.