Ich stehe vor dem Schaufenster eines Waffengeschäftes. «Welches ist deine Lieblingswaffe?» flüstert mir der Erzähler aus der «Polder-Game-App» auf meinem Smartphone ins Ohr. Wäre ich Fritz, mit welcher Waffe würde ich meine Mitschüler ermorden? Das muss ich wissen, will ich Fritz davon abhalten. Denn das ist das Ziel, welches ich in diesem Game erreichen muss: Fritz plant ein Massaker – und die Spieler müssen ihn stoppen. Teilweise im Alleingang, teilweise im Team mit anderen Mitspielern.
Die App führt mich weiter auf den Münsterplatz. «Siehst Du den Fremdenführer? Er weiss, wie du in Fritz' Unterbewusstsein vordringen kannst. Sprich ihn an!» Ich gehe auf den erstbesten Menschen zu und frage ihn hastig: «Wie kann ich in Fritz' Unterbewusstsein vordringen?» Der Passant schaut mich verwirrt an. «Oh, sie sind nicht Teil des Spieles? Sie müssen mich entschuldigen, ich dachte, Sie wären ein Schauspieler», versuche ich die Situation zu retten. «Aber ich sehe ihn schon – er steht da drüben. Nichts für Ungut.»
Die Stadt Bern wird zum Game
«Augmented Reality Walk» nennt Samuel Schwarz der Theatergruppe 400asa diese neue Form des Theaters. Mit einer App auf dem Smartphone werden die Zuschauer von einem Erzähler durch die Stadt Bern gelotst. Untermalt von leisen Stimmen und verzerrten Klavierklängen wird die Stadt Bern zum Spiel.
Aus den schönen Gässchen der Altstadt werden dunkle Höhlen, durch welche der Zuschauer mutig stapft, und Passanten werden zu bedrohlichen Gestalten: Nie ist klar, wer zum Spiel gehört und wer nicht – wer ein Gegner ist, und wer nicht. Räume und Objekte werden mit Bedeutung aufgeladen und so zum Teil der Geschichte gemacht. Ob ein schreiender Junkie vor der Drogenabgabestelle tatsächlich paranoid oder eben doch Teil des Spieles ist, wird erst klar, wenn er in einem dunklen Bunker das nächste Rätsel offenbart. Je mehr Rätsel und Aufgaben im Verlauf des Spiels gelöst werden, desto tiefer dringt der Zuschauer in das Unterbewusstsein von Fritz vor.
Verschiedene Erzählstrukturen ausprobieren
Die «Augmented Reality Walks» sind der erste Teil eines Film- und Gameprojektes. Das zentrale Thema des Projekts ist die Vermischung von Realität und Fiktion, von Online-Kommunikation und Offline-Kommunikation. Dieses Spannungsfeld wollen die Macher mit ihrer App erlebbar machen. Das Game in Bern dient als Pilotprojekt. Hier sollen verschiedene Game- und Erzählstrukturen ausprobiert werden. Später wird die App auch in anderen Städten spielbar sein.
Alle Teile des Projektes – die Games sowie der dazugehörige Spielfilm, der 2014 in den Kinos anlaufen wird – sind in sich geschlossene Einheiten. Wer das Game nicht spielt, versteht den Film trotzdem. Und wer einen «Augmented Reality Walk» verpasst, kann trotzdem am Spiel teilnehmen. Je mehr Teile die Fans jedoch absolvieren, umso tiefer können sie in die Erzählwelt von «Der Polder» eindringen.
Wie werden wir 2025 Geschichten erzählen?
«Der Polder» zeigt: Die Art, wie wir Geschichten erzählen und erleben, verändert sich. Wir benützen Bilder und Videos von Smartphones, um unseren Freunden Geschichten aus unserem Leben zu erzählen. Verschiedene Medien miteinander zu kombinieren wird im Alltag zur Selbstverständlichkeit. Doch was bedeutet dies für traditionelle Erzählmedien?
Unter dem Begriff «Transmedia Storytelling» experimentiert die Film- und Verlagsindustrie schon seit geraumer Zeit mit neuen Erzählformen. Der Film «The Matrix» ging als einer der ersten gelungene Versuche zum Thema in die Filmgeschichte ein. Nach dem zweiten Film der Trilogie konnten die Fans eine Vorgeschichte zum letzten Teil am Computer selber durchspielen. In «Enter the Matrix» übernahm der Spieler die Kontrolle über eine Nebenfigur. Mit ihr erlebte er Geschichten, die im Film zwar angedeutet, aber nicht ausformuliert wurden.
Der US-Filmgigant Warner Bros. hat seit dem Erfolg mit «The Matrix» regelmässig mit neuen Arten experimentiert, um die Geschichten seiner Blockbuster zu erzählen. So halfen im Rahmen eines «Augmented Reality Games» Millionen von Fans dem Joker aus «The Dark Knight», den Banküberfall zu Beginn des Filmes zu planen. Normale Zuschauer mussten das Game nicht kennen, um den Film zu verstehen. Doch die hartgesottenen Fans wussten, dass sie die ersten Szenen des Films ermöglicht hatten.
Kultur und Wirtschaft im Dialog
In kaum einer Kunstform prallen wirtschaftliche und kulturelle Interessen so direkt aufeinander wie im Film. Denn hinter der Innovationsfreude der Mediengiganten stehen vielmehr ökonomische als kulturelle Innovationsgedanken. Dies zeigt sich am Beispiel Batman deutlich: Ob Batman-Games, Batman-Kinofilme oder -Fernsehserien – dahinter steckt der Time Warner Konzern, respektive eine seiner Tochterfirmen. Wenn nun ein funktionierendes Produkt wie die Batman-Figur konzernweit eingesetzt wird, erzielen alle Tochterfirmen einen Profit. Funktioniert ein Projekt, finden so die verschiedensten Zuschauergruppen ihren Weg zum Produkt: Gamer, Comicfans, Fernsehzuschauer und Kinozuschauer – alle kommen auf ihre Kosten. Und Time Warner kassiert.
Und was hat das mit der Schweiz zu tun?
Die Schweizer Filmwirtschaft funktioniert anders. Mediengiganten wie Time Warner, dem Dutzende von Tochterfirmen angeschlossen sind, existieren nicht. Im Gegenteil: In der Schweiz sind mehr Filmproduktionsfirmen registriert als Filme pro Jahr produziert werden. Ein Grossteil der Gelder, welche in der Schweizer Filmindustrie eingesetzt werden, stammt aus öffentlicher Hand.
Projekte in der Grösse von «The Matrix» oder der Batman-Franchise sind damit undenkbar. Und trotzdem stehen Schweizer Filme im direkten Konkurrenzkampf mit den Mediengiganten der USA – und ihren Erzählstrategien.
Wie diese Erzählweisen in der Schweiz aussehen und welche Erzählstrategien in der Schweiz tatsächlich Erfolg haben werden, steht noch offen. Projekte wie «Der Polder» von 400asa betreiben mit ihren Theater- und Filmexperimenten schon mal erzähltechnische Grundlagenforschung und bereiten die Schweizer Kultur auf die Zukunft vor. Wer die Chance packen und ein Stück Schweizer Mediengeschichte erleben will, kann dies an diesem Wochenende in Bern tun.