Wie soll man die Passionsgeschichte heute erzählen? Darf man sie inszenieren? Ist sie überhaupt noch aktuell? Es scheint so: Derzeit gibt es – nicht zum ersten Mal – sogar einen kleinen Boom inszenierter Passionen. Der US-amerikanische Regisseur Peter Sellars hat beispielsweise Bachs «Matthäus-Passion» vergangenes Jahr mit den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle in einer «Ritualisierung» gezeigt.
Und der Schweizer Reto Nickler hat kürzlich um die Johannes-Passion herum eine bewegte «sakrale Installation» gebaut, mit dem Bach Collegium Zürich unter Bernhard Hunziker: Die Handlung wurde mit ganz knappen Gesten angedeutet, Texte erschienen auf Grossleinwand; vor allem aber bewegte sich der Chor durch das ganze Grossmünster. Plötzlich befanden sich die Zuhörer mitten im Choralklang. Und diese Räumlichkeit, weg von der starren Konzertsituation, war denn auch das eigentliche Ereignis des Abends.
Weniger ist mehr
Zu beobachten war dabei ein eher statischer, wenig actiongeladener, also sparsamer Aufführungsstil. Das ist durchaus ein Trend. Ein Hauptvertreter dieses Stils ist eben Sellars, der im Gespräch sagt, er wolle den von Fernsehen und Hollywood überfütterten Augen nicht noch mehr Bilder liefern. Lieber will er das Zuschauen intensivieren: In seinem neuen Oratorium agieren nur die Personen und das Licht, auf reduzierte, mimisch-tänzerisch stilisierte Weise.
Der Komponist John Adams, mit dem Sellars seit langem zusammen arbeitet, schrieb die Musik dazu. «The Gospel According to the Other Mary» wurde vor einem Jahr in Los Angeles konzertant unter der hervorragenden Leitung von Gustavo Dudamel uraufgeführt und ging nun in der szenischen Version auf Reise.
Biblische Figuren im Jetzt
Wenn Sellars eine neue Passionsgeschichte erzählt, so interessiert ihn daran besonders die sozialpolitische Aktualität: das Engagement für die Armen und Benachteiligten. Man müsse zu den Wurzeln des Christentums vor ihrer Institutionalisierung durch die Kirche zurückkehren, sagt er. Und deshalb wählte er zusammen mit dem Komponisten John Adams hier einen anderen Zugang: Das Stück erzählt die Passion aus der Sicht der Frauen, von Maria Magdalena und ihrer Schwester Martha.
Dabei werden diese biblischen Figuren auch in die Neuzeit transferiert. «The Other Mary» tritt uns in der allerersten Szene in der Gestalt von Dorothy Day entgegen. Also jener New Yorker Sozialaktivistin, die die katholische Arbeiterbewegung mitbegründete und den Armen Suppenmahlzeiten verteilte. Als Bürgerrechtlerin wurde sie ins Gefängnis geworfen und sass dort, wie sie erzählt, neben Drogensüchtigen. Um solchen Widerstand geht es Sellars: Zum Mezzosopransolo singt der Los Angeles Master Chorale: «Howl ye» («Schreit auf, denn der Tag des Herrn ist nahe»).
Eine Passion für unsere Zeit
Es sind die Frauen, die Jesus nach Golgatha begleiten und am Morgen an seinem Grab erscheinen. Die Kreuzigung wird in diesem Oratorium eher knapp, aber äusserst pointiert dargestellt. Wichtiger ist das Thema der Auferstehung. Erzählt wird nämlich zunächst, wie Jesus den bereits seit vier Tagen toten Lazarus wieder zum Leben erweckt. Das Werk endet schliesslich nicht mit der Klage, sondern mit der Auferstehung Christi, also mit einem Zeichen der Hoffnung.
Weit gespannt zwischen Leben und Tod sind deshalb die Ereignisse und die Emotionen, weit dimensioniert auch die Musik von Adams. Der in Kalifornien lebende Komponist hat seinen Stil stark weiter entwickelt. Natürlich gibt es auch die für ihn typischen ekstatischen und rhythmisch so bewegten Momente. Gleichzeitig aber verdichtet er seine Tonsprache, schärft sie dissonant, bringt fremdartige Elemente ein – wie zum Beispiel ein Zimbalon, ein ungarisches Hackbrett – oder lässt die Vokalstimmen in bittersüssen Harmonien singen. Damit erreicht er eine ausserordentliche Intensität. Und so entsteht eine neue Passion für unsere Zeit.