Gibt es auf dieser Welt noch was zu entdecken? Längst sind wir scheinbar überinformiert und abgefüllt mit News, Bildern, Videos aus allen Kontinenten. Digital vernetzt bewegen wir uns überall und nirgendwo zugleich und, so glauben wir zumindest, kennen jeden Winkel der Welt.
Doch wer die Reise wagt - nicht weit, nur auf die Landiwiese nach Zürich - wird auch in diesem Spätsommer ungewohnte Perspektiven erleben, unbekannten Geschichten und Theatersprachen begegnen.
Theater und Tanz aus 30 Nationen
Sandro Lunin, künstlerischer Leiter des Zürcher Theaterspektakels bekommt glänzende Augen, wenn man ihn nach den Höhepunkten des Programms befragt: «Wir wollen eine heutige, junge, urbane Theatersprache präsentieren, natürlich aus der Schweiz und aus Europa, aber auch aus den Kontinenten des Südens, also Asien, Lateinamerika und Afrika.»
«Kann man denn die Welt so anders kennenlernen?», frage ich ihn. – «Kennenlernen ist vielleicht übertrieben, aber man kann dieser Welt in einer sehr speziellen Form begegnen und einen sehr speziellen Ausschnitt dieser Welt betrachten.»
Sandro Lunin bereist die Welt seit über 15 Jahren, auf der Suche nach neuen aufregenden Tanz- und Theaterproduktionen, die er dann in der Schweiz präsentiert. Er besucht Festivals, beobachtet Proben, setzt sich mit den Arbeits- und Produktionsweisen junger Theatermacherinnen und -macher auseinander.
Die Unterschiede einer Theaterproduktion beispielsweise im westlichen Afrika und hier seien immens, erzählt er. Das beginnt bei der schwierigen Suche nach einem Probenraum, die auch in afrikanischen Metropolen kaum zu finden sind. Dann die Transportprobleme, die eine geregelte Probenarbeit erschweren.
Staatliche Kulturbürokratie
Und wer die minimalsten Grundbedingungen dann geschaffen hat, bekommt es meist mit einer staatlichen Kulturbürokratie zu tun, die mehr verhindert als ermöglicht, weil sie nur die staatlich geförderte Repräsentationskultur unterstützen will.
«Es ist gigantisch, wie gross die Unterschiede sind, zwischen der sogenannten offiziellen Kultur in diesen Ländern, die zum Teil wirklich eine reine Scheinkultur ist, und der unglaublich lebendigen, reichen, wachen freien Szene, die aber um jeden Quadratmeter kämpfen muss, um überhaupt eine Überlebenschance zu haben,» so beschreibt Sandro Lunin die Situation vieler Künstlerinnen und Künstler im westlichen Afrika.
Inzwischen gäbe es aber ein ganzes Netzwerk von innovativen Theater- und Tanzcompagnien, die miteinander und auch mit Festivals in Europa kooperieren.
Arbeitsweise im Vordergrund
Gibt es ein Kriterium für die Stücke, die er nach Zürich holt? Sandro Lunin schmunzelt, denn diese typische Journalistenfrage ist nicht so einfach zu beantworten. Für ihn seien die Arbeitsweisen wichtig. «Man beobachtet, wie geht jemand an eine Arbeit heran», sagt Lunin.
«Man diskutiert ja mit den Künstlern und Künstlerinnen auch sehr viel über ihre Konzepte, wie die Arbeiten entstehen. Das sind sehr persönliche Forschungsreisen, die sie anstellen, und diesen Forschungsreisen zu folgen, kann sehr spannend sein. Wenn sie zu Stücken führen, die nach aussen offen und einsichtig sind.»
Der authentische persönliche Zugang in einer jungen eigenwilligen und urbanen Theater- oder Tanzsprache, das sind die Produktionen, nach denen Sandro Lunin sucht. «Wenn es über das Persönliche hinausgeht und sich einklinkt in die ökonomischen, sozialen und politischen Prozesse, dann wird es hoch spannend», sagt Lunin.
Theatralische Spurensuche
Theaterreisen in vergessene, verschwundene oder unbekannte Welten - der kongolesische Tänzer und Choreograf Faustin Linyekula ist so ein theatralischer Spurensucher. Der in Frankreich erfolgreiche Künstler kehrte in seine Heimat, die Demokratische Republik Kongo zurück und gründete in Kisangali ein Kulturzentrum.
Mit Tänzerinnen und Tänzern und Schauspielerinnen begab er sich auf die Suche nach den Orten ihrer Kindheit in diesem von Bürgerkriegen zerstörten Land. Das Ergebnis – «drums and digging» – ein leiser poetischer Abend über ein entschwundenes Afrika.
Oder das tunesische Geschwisterpaar Selma & Sofiane Ouissi, die für ihr Stück «Laaroussa» bei Töpferinnen im armen Norden Tunesiens recherchiert haben. So entstand eine minimalistische Choreografie, basierend auf den Jahrhunderte alten Arbeitsprozessen der Frauen von Sejnane.
Spektakel für Entdecker
Das Programm steckt voller Experimente. Fremde Sprachen, fremde Botschaften gilt es zu entschlüsseln. «Dass viele Theaterbilder bei uns in Europa andere Assoziationen auslösen, das finde ich gar nicht schlimm», meint Sandro Lunin, auch wenn man manches nicht verstehe.
«Man kann als Zuschauer immer selber etwas darin sehen. Ich denke, es ist immer sehr wichtig, dass man sich aus seiner Sicht dem Stück gegenüber öffnet und dann aus dem etwas entstehen lässt.» – Der Zuschauer auf seiner eigenen Entdeckungsreise.
Besonders in den «Short Pieces» – einer Spezialität des Festivals für junge Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt, gibt es echte Entdeckungen – junge, freche, urbane Theaterformen. Moe Satt aus Myanmar zeigt eine Performance mit 108 Gesten, die er nur mit seinem Gesicht und seinen Händen entstehen lässt.
Kunst aus einem Land, in dem Meinungsfreiheit noch vor kurzem brutal unterdrückt wurde. Oder Eisa Jocson von den Philippinen – sie setzt sich in «Macho Dancer» mit sexuell aufgeladenen Tanzformen philippinischer Striptease-Tänzer auseinander. Hinter all diesen Stücken lassen sich aufregende Geschichten entdecken.
Der Geschichtenmensch
Wonach sucht man, wenn man als Festivalleiter Stücke, Performances und Choreografien aussucht? Sandro Lunin macht am Ende unseres Gesprächs eine lange Pause.
Dann platzt es fast aus ihm heraus: «Ich suche nach Geschichten, nach spannenden Geschichten. Ich finde es spannend, die Welt durch die Augen dieser Künstlerinnen und Künstler zu sehen und diese Geschichten nach Zürich zu bringen. So kann man die Vielfältigkeit der Welt positiv wahrnehmen, nicht als etwas, was uns Angst macht, sondern als echte Bereicherung.»