«Poétique et politique» soll das Festival d'Avignon sein, postuliert Olivier Py, der es seit diesem Sommer leitet. Er nimmt damit Bezug auf den Gründervater Jean Vilar und dessen Idee eines «Théâtre National Populaire», eines Theaters für alle, befasst mit dem Gesellschaftsvertrag.
Denn «die Zeit der Politiker ist nicht die Zeit der Bürger», hält der neue Festivaldirektor fest. «Erinnern Sie sich mal an Ihren letzten Theaterbesuch und dann an die ‹Tagesschau› von vor einer Woche. Was ist geblieben?», fragt Olivier Py.
Wege, wie man scheitern kann
Das Theater soll eine andere Geschwindigkeit vorgeben. Wie das aussehen kann, zeigt Py mit dem Stück «Orlando ou l'Impatience», deutsch «Orlando oder Die Ungeduld», das er für das Festival geschrieben hat. Eine Ungeduld, die auch mit Sehnsucht verknüpft ist. Für Py drückt das Wort gar spirituellen Mangel und Begehren aus: «L'impatience est, pour moi, un synonyme de la soif spirituelle», sagt er.
Die Kunst, das Leben und der tiefere Sinn: Orlando sucht den Vater. Was er findet, sind Allegorien: der verzweifelte Vater, der exaltierte, der ehrlose, der vergessene, der neubegonnene. Sinnbilder für Lebensmöglichkeiten und Theaterformen, und vor allem: Wege, wie man scheitern kann. Orlando, der hinreissende Matthieu Dessertine, ist unersättlich. «Nichts ist gross genug, nichts genug skandalös», sagt er.
Vätersuche
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Auf seinem Coming-of-age-Parcours findet Orlando die Liebe (François Michonneau), die unerreichbar bleiben muss. Er begegnet aber auch einem «Ministre de la culture», der den Selbsthass des Mächtigen mit obsessiven Unterwerfungsphantasien verbindet. Das kommt beim politisch eingestimmten Publikum in Avignon gut an.
Das Festival d'Avignon sei für ihn, der in der Provence zur Welt kam, schon als Kind der grosse Traum gewesen, sagt Olivier Py. Nun hat er das Festival übernommen und macht sich auf Vätersuche: nicht nur in «Orlando», auch mit Inszenierungen wie Kleists «Prinz von Homburg» oder einer Episode aus dem «Mahabharata», die an legendäre Festival-Momente anknüpfen.
Die Sprache als Ort des Widerstands
Py ist ein interessanter Künstler und ein kluger Kopf. Und er hat sich die kluge und interessante Herausforderung gesetzt, Künstler nach Avignon zu holen, die hier noch nicht unbedingt Habitués sind. Natürlich auch, um gegen den internationalen Szene-Hub anzukommen, den sein Vorgänger Vincent Baudriller in den vergangenen zehn Jahren aus dem Festival gemacht hat.
Es gab dabei Funde, aber auch Totalausfälle. Das ist das Risiko. Eine Entdeckung ist der Brasilianer Antônio Araújo, der im barocken «Hôtel des monnaies» eine stürmische Finanzmarkt-Groteske gezeigt hat: «Dire ce qu’on ne pense pas dans des langues qu’on ne parle pas» (Sagen, was man nicht denkt, in Sprachen, die man nicht spricht). Ein Stück, in dem die Sprache zum Ort des Widerstands wird – und in dem sich der poetische und der politische Blick aufs Schlauste treffen.