Giselle stammt aus einer Epoche, in der Feen und Geister die Bühnen belebten. Heute gilt «Giselle» als Archetypus des romantischen Balletts – und als Publikumsrenner.
Tanz in den Tod
Giselle ist eine Geschichte aus Parallelwelten, die von Rachegeistern enttäuschter Liebe erzählt. Ein Plot, wie er heute vielleicht in einem Science-Fiction-Format erzählt würde.
Die junge Giselle verliebt sich in den adeligen Charmeur Albrecht. Dieser spielt mit ihr, längst ist er einer anderen versprochen. Giselle verliert den Verstand und stirbt an gebrochenem Herzen. Die Liebesgeschichte endet im Drama und hat ihre Fortsetzung in der Welt der Geister. In einer Welt, in der rachedürstende Seelen enttäuschter Bräute die Männer in den Tod tanzen.
Grosse Emotionen statt grosse Posen
Für den französischen Choreografen Patrice Bart sind Giselle, Albrecht und die weiteren Charaktere keineswegs nur Figuren der Romantik. Seine Charaktere verweisen in den Alltag der darstellenden Tänzerinnen. Das Stück hat ihn sein Leben lang begleitet.
Für das Ballett Zürich choreografiert er nun eine neue Version. Diese steht zwar in der Tradition des klassischen Balletts, der Welt der Spitzenschuhe und Tüllkleider, doch Bart setzt nicht auf Posen sondern auf Emotionen: «Die starken Gefühle der Figuren existieren im Leben – und in allen Epochen. Mein Rezept ist, diese herauszuarbeiten, so dass ein Ballett wie ‹Giselle› keineswegs altmodisch ist.»
Kämpfen für Gefühle
Er hebt die Individualität einer Tänzerin, eines Tänzers hervor: «Ich kämpfe für Gefühle, welche die Tänzer in ihrem echten Leben erprobt haben. Auch wenn ihre Geschichte vielleicht nicht dieselbe ist wie auf der Bühne.»
Ein Ensemble, das sich so natürlich wie möglich zeigt, sei für das Publikum leichter lesbar, sagt Bart: «Der Tanz wird zur Konversation.» Der Choreograf betont in seinem Stück zeitlose Konflikte und Sehnsüchte des Menschen.
Patrice Bart hat die Rolle von Prinz Albrecht hunderte Male selbst auf der Bühne getanzt. Er hat 53 Jahre seines Tänzer- und Choreografenlebens am Traditionshaus der Opéra de Paris verbracht. Nun entwickelt er mit neuen choreografischen Mitteln die traditionsreiche Form des Handlungsballetts weiter. Er verbindet traditionelle mit zeitgenössischer Tanztechnik.
Tradition und Neues müssen ineinandergreifen
Nur wenn die Raffinessen des klassischen Balletts und zeitgenössische Ausdruckformen ineinandergreifen, entstehe eine Giselle, die heute noch das Publikum berührt: «Damit die Balletttradition weiterlebt, muss sie gegenüber dem zeitgenössischem Tanzschaffen offen sein.»
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Sonst erinnere das Stück an einen Museumsbesuch, sagt Bart: «Hübsche Bilder, aber die Essenz ist verloren. Zeitgenössische Elemente hingegen tragen das Empfinden unserer Zeit bei.»
Bart will, dass das Publikum das Gefühl hat, dabei zu sein, wie das Ballett neu geboren wird. Die Handlung der über hundertjährigen Geschichte erzählen die Tänzerinnen in Zürich über die emotionalen Reaktionen der Figuren. Eine Erzählform, wie sie nur der Tanz mittels seiner Bewegungssprache schafft.