Als ich ihn vor 21 Jahren zum ersten Mal im schwedischen Rundfunk sprechen hörte, klang eine Stimme wie aus einer tiefen Nacht. In unverstellter Schwermut redete einer über die Krankheit der Zeit. Nach eineinhalb Stunden hörte ich immer noch zu, als der Name des Schwerbluts genannt wurde: Lars Norén.
Der 1944 in Schweden geborene Dramatiker hatte damals schon einige Rollen in der nordischen Theaterwelt gespielt. Als Lyriker, Theaterdirektor, als Regisseur und als kompromissloser Autor. In allen Rollen ist er auch heute noch ein Teil des schwedischen Theaterlebens.
Rechercheur und Provokateur
Als Lyriker ergründete Norén die Sprache der Liebe. Als Dramatiker vertiefte er sich in die Wortgefechte aus der Beziehungskiste. Als Regisseur setzte er die grossen, klassischen Fragen von Sterben und Vergänglichkeit in Szene. In allen Funktionen zeichnete er sich als unberechenbarer Realitätsforscher aus. Um ein Stück zu erarbeiten, begab er sich auch schon mal ins Gefängnis.
Nicht selten tauchte Norén in der Umgebung der Figuren seiner späteren Stücke unter – recherchierte, und kehrte erst nach Monaten wieder zurück, mit Notaten aus den sozialen Untiefen der Wohlstandsgesellschaft, mit dramatischen Skizzen der sozialen Verelendung. Nur wenige Dramatiker belauschen unsere Zeit und ihr eigenes Leben derart kompromisslos wie Norén.
Als er 2008 in Schweden das umfangreiche «Tagebuch eines Dramatikers» veröffentlichte, wandte Norén seine Recherche-Methode auch auf sein eigenes Leben an: Er verstiess in dem 1600 Seiten dicken Buch gegen alle Regeln der Selbstzensur, verärgerte Freunde in einem ausufernden inneren Monolog, stiess Verwandte vor den Kopf. Wieder musste das Norén-Bild revidiert werden.
Spezialist für psychologisch feingliedrige Dramen
Seit Norén in den 1980er-Jahren mit den wilden Beziehungskisten «Nacht, Mutter des Tages» und «Dämonen» (von Claus Peyman in Bochum inszeniert) auch die deutschen Bühnen erobert hatte, galt Norén bei uns lange in der Nachfolge von Strindberg und Bergman als Spezialist für psychologisch feingliedrige Familien- und Beziehungs-Dramen.
Je stiller jedoch seine späteren Stücke wurden, desto mehr löste er die herkömmliche Erzählweise des Theaters auf. Desto ruhiger wurde es aber auch um Norén im deutschsprachigen Raum. Erst mit dem Stück «Personenkreis 3:1» kehrte er auf die Hauptbühnen zurück (Thomas Ostermeier gewann mit seiner Inszenierung an der Berliner Schaubühne den «Goldenen Löwen» der Biennale Venedig 2000).
Die Sprache der Verlierer
Norén präsentierte zunehmend unbequeme Menschenbilder auf den Bühnen. In seinem neuesten grossen Theater-Sittenbild «3.31.93», das in diesem Sommer in Stockholm Premiere feierte, fasst er in 93 Kurz-Szenen seine Endzeitstimmung in einer Art chorischem Fragment zu einem vierstündigen Theaterabend zusammen: In der Sprache der Verlierer findet er mehr Optimismus als bei jenen, die keine sein wollen. Aber leicht finden die Figuren Noréns nicht mehr ihre Sprache. Und selbst die Fragmente ziehen ihre Dramatik aus dem ausgesprochen Unausgesprochenen.
Das Ungesagte hörbar machen
Kompromisslos verhilft Norén als Autor wie als Regisseur den schweigenden Minderheiten zu einer eigenen, erlauschten Sprache. Gerade weil er so genau hinhören kann, das Ungesagte zwischen den Zeilen hörbar machen kann, ist er in Hörspielen doppelt faszinierend: Mit seiner dramatischen Methode der Enthüllung des in Schweigen Gehüllten. Und mit seiner erbarmungslosen Themenwahl.
Aus einem zutiefst menschlichen Verständniswunsch heraus wendet sich Norén mit zunehmendem Alter in seinen Hörspielen seinem grossen Thema zu, das uns leicht alle Worte raubt: Dem Tod und dem Sterben. Dabei stellt er sich auch hierin nicht über seine Figuren, sondern lässt sie in unseren Ohren den letzten Geheimnissen begegnen. «Schatten» ist seine neueste Arbeit für das «Radiotheater», wie das Hörspiel in Schweden immer noch genannt wird.