Für Ihr Stück «The Civil Wars» haben Sie 2013 intensiv in den Vorstädten von Brüssel recherchiert, in jenen Milieus, aus denen einige der Attentäter von Paris stammen. Sie haben mit Familien gesprochen, haben dort gelebt. Wie sind Sie vorgegangen?
Milo Rau: Ich habe sehr viele Dschihadisten begleitet, ihre Familien, über ein Jahr hinweg. Das war damals 2013 noch eine andere Generation, aber es sind die gleichen Kreise, es sind die gleichen Cafés, natürlich die gleichen Quartiere, teilweise die gleichen Familien. Die Situation hat sich seither radikalisiert, damals dachte man, das sei so eine Art Peak, das sei das Extremste, als ganze Schulklassen weggegangen sind. Aber es war nur der Anfang von etwas viel Grösserem.
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Gibt es eine Gemeinsamkeit bei den jungen Männern, über die Sie recherchiert haben?
Fehlende Vaterfiguren sind für uns ein wenig zur Chiffre geworden, für diese Zeit von einem fehlgeleiteten, negativen Heroismus, in der junge Menschen Europa verlassen, um … – ja, um zu töten. Sie wollen die Welt verbessern, am Schluss werden sie zu Mördern. Das ist für mich eine Metapher für eine Gesellschaft, für den Untergang des Patriarchats, das jetzt seine Kehrseite zeigt.
Die jungen Leute kommen aus Milieus, die traditionell patriarchal organisiert gewesen sind. Sie stammen aus den Migrationsströmen aus Nordafrika, die oft starke Väter hatten, die aber entwurzelt wurden, die arbeitslos, die Alkoholiker wurden, und die keinen Platz mehr in der Gesellschaft fanden.
In den 1960er-Jahren haben die Söhne ihre Väter noch bekämpft, heute gibt es diesen Kampf nicht mehr, der klassische Generationenkampf im männlichen Sinn findet nicht statt. Für mich ist das einer der Gründe, warum diese jungen Männer teilweise so austicken.
Inzwischen kämpfen ja Tausende von «Gotteskriegern» aus Westeuropa für den IS. Müsste die Ausreise strenger kontrolliert werden?
Eigentlich müsste man den Stacheldraht, der die Grenzen von Europa schützt, nach innen richten. Weil wir einfach Tausende und Abertausende von Kriminellen in den Nahen Osten exportieren. Jetzt ist der Terror für ein Mal nach Paris zurückgekommen, aber die Irren, die die Anschläge dort gemacht haben, machen jeden Tag mindestens 10 Anschläge in Syrien, im Irak, in der Region dort. Und das sind Europäer. Man muss sich das mal vor Augen führen, was die Europäer eigentlich so anrichten, und zwar als Kriegstourismus. Das ist total wahnwitzig.
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Ich würde mir wünschen, man würde diesen Zusammenhang auch sehen, man würde Aleppo oder die Kriegsgebiete in Syrien als Teil von Europa sehen, das einen genauso betrifft, dann würde man vielleicht eine Lösung finden.
Das ist wirklich unsere Aufgabe, dass wir die Empfindsamkeit, die wir den Opfern von Paris gegenüber haben, ausdehnen. Global und politisch. Ich möchte, dass wir auch Mitgefühl für die Opfer von Beirut zeigen, ja auch für die Opfer in Kinshasa.
Woher kommt die grausame und willkürliche Brutalität der Terroristen?
Sie haben mit dem Leben abgeschlossen, das Leben oder der Tod spielen keine Rolle, man ist drüber hinweg. Und das ist mit einer Gefühlskälte gepaart, die einen einfach Leute köpfen lässt. Das Leben von anderen ist nichts wert, das eigene ist aber auch nichts wert, und das ist schon beeindruckend als Haltung. Auch diese Todesverachtung. Das ist im Grunde ein ganz klassischer Heroismus. Man ist bereit, für eine Sache zu sterben, an die man wirklich glaubt. Das eigene Leben tritt komplett hinter den kollektiven, transzendenten Zielen zurück.
Das ist schon beeindruckend, vor allem in einer Gesellschaft wie unserer, in der es solche ideologischen Ziele nicht mehr gibt. Es gibt heute anscheinend wirklich nur noch eine starke ideologische Richtung, und das ist der politische Islam. Das ist irgendwie krass. Wir haben keine linke Bewegung, wir haben keinen Liberalismus, keinen ernsthaften Liberalismus – aber wir haben einen politischen Islam.
Sie arbeiten gerade an einem neuen Stück mit dem Titel «Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs». Wäre Mitleid eine Antwort auf diesen Terror?
Das ist die Frage, die wir uns im Moment sehr genau stellen müssen. Wir müssen uns entscheiden, wo wollen wir unsere Grenzen des Mitleids ziehen. An den Grenzen von Europa, wie wir es im Moment tun?