«Ah! Ich habe ihn geküsst, deinen Mund, es war ein bitterer Geschmack auf deinen Lippen»: Salome liebkost das blutige, abgeschlagene Haupt Johannes' des Täufers. Was für eine Provokation, ein Skandal in der Staatsoper Dresden. Wir schreiben das Jahr 1905, und selbst der Kaiser fühlt sich genötigt, zum Opernereignis «Salome» Stellung zu nehmen. Unerhört: Da betört die tanzende Salome den Herodes, steht am Ende nackt vor ihm, fordert den Kopf des Johannes, der ihre Liebe verschmähte. «Tötet dieses Weib!» befiehlt Herodes schliesslich, angewidert von Salomes Blutrünstigkeit.
Richard Strauss Superstar
Richard Strauss wird mit diesem Werk – nach heutigen Begriffen – zum Superstar: geliebt vom Publikum, angefeindet von der Kritik. Er hat es gewagt, einer strikt männerdominierten Welt eine erschreckende und erschreckend starke Heldin vorzusetzen.
Wie Strauss die Extreme der weiblichen Psyche auslotet, ist in der Kaiserzeit ein künstlerischer Aufbruch. Seine Kollegen Maurice Ravel und Gustav Mahler bewundern ihn dafür. Und Salome sollte nur die erste einer ganzen Reihe von leidenschaftlichen Frauenfiguren sein, um die der Komponist seine Klanggemälde schuf.
Erstaunlich: Ausgerechnet dieser durchaus herrisch auftretende Komponist aus Bayern führte seinen Mitbürgern im wilhelminischen Kaiserreich die Vision der selbstbestimmten Frau vor Augen. Eine mögliche Erklärung findet sich in der Biografie des Komponisten, die von starken Frauen geprägt ist.
Ein treuer Frauenversteher
Seine wichtigste Gefährtin war Pauline de Ahna, seine Ehefrau: verschrien als aufsässiger Plaggeist, bekannt dafür, ihren Gatten öffentlich zu demütigen, gemieden von den Musikerkollegen. Für sie hatte Richard sich entschieden, und es war eine endgültige Wahl. Seitensprünge sind keine dokumentiert, trotz grossen Eifersüchteleien. Eine davon ausgelöst durch ein «Billet doux». Die kleine Liebeserklärung kam von einer gewissen Mieze Mücke, und sie reichte aus, die Gattin auf die Palme zu bringen.
Eine andere wichtige Frau, auch aus dem engsten Familienkreis, war seine jüdische Schwiegertochter Alice. Als deren Grossmutter ins KZ verschleppt wird, reist der alte Strauss dorthin, gibt sich als Komponist des «Rosenkavaliers» zu erkennen und fordert ihre Freilassung. Erfolglos. Man hält den ehemaligen Präsidenten der Reichmusikkammer für verrückt.
Am Ende sind es nicht nur die berühmten dramatischen Heldinnen der Strauss-Opern – Salome, Elektra oder die unvergesslichen Frauen wie die Marschallin im «Rosenkavalier» – die berühren. Am Ende ist es «Im Abendrot», das letzte Lied des greisen Richard Strauss': Eine Liebeserklärung an seine Pauline, die am stärksten, am direktesten ins Herz geht. Sie klingt wie das Vermächtnis eines treuen Frauenverstehers.