1860 geschrieben, erzählt Gottfried Kellers Novelle «Das Fähnlein der sieben Aufrechten» von einer Schweiz im Umbruch. Keller schaut darin auf 1849 zurück, der moderne Bundesstaat wurde gerade gegründet, und sieben altbewährte Kämpfer, Zürcher Kaufmänner, wollen als Krönung ihrer Karriere in Aarau an einem Schützenfest teilnehmen. Was uns diese Geschichte heute noch angeht?
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Einer der wackeren Mannen spricht ziemlich am Anfang des Stücks einen Gedanken aus, der von heute aus gesehen etwas geradezu Visionäres hat. Ein Satz, der wohl auch Regisseur Niklaus Helbling von der Aktualität dieses Stoffes überzeugt hat, denn er wird nicht nur auf der Bühne gross inszeniert, sondern auch im Programmheft nochmal abgedruckt.
Visionärer Schweiz-Kommentar
«Es wird eine Zeit kommen, wo in unserem Lande, wie anderwärts, sich grosse Massen Geldes zusammenhängen, ohne auf tüchtige Weise erarbeitet und erspart worden zu sein; dann wird es gelten, dem Teufel die Zähne zu weisen, dann wird es sich zeigen, ob der Faden und die Farbe gut sind in unserem Fahnentuch!» – Originalton Keller, geschrieben vor 153 Jahren.
Eine faszinierende Vorstellung: Mit Gottfried Keller, der aus seiner Zeit in eine nahe Vergangenheit zurückschaut, das Heute reflektieren. Die genaue Beobachtung und Beschreibungskunst des Dichters mit den Aktualitätsansprüchen des Theaters verbinden. Am Theater Basel funktioniert das teilweise.
Im Gestern gefangen: Poltern und Singen
Die Bühne zeigt eine komplexe Holzkonstruktion zwischen Stammkneipe und Theaterraum, mit vielen helvetischen Zeichen aus dem Gestern wie Heute versetzt: Das Hodler-Bild hängt neben der Käsereklame, die Waschmaschine steht inmitten von Holztischen und Stühlen, die mal zum Stammtisch, zur Kaserne oder für eine Bootsfahrt auf dem See szenisch umfunktioniert werden.
Das Personal gibt sich ebenfalls historisch aktualisiert: Grobe Stoffe, theatrale Bärte. Gleich am Anfang treten die sieben Aufrechten mit einer Ballade über ihr Sturmgewehr an die Rampe, gesungen wird zwar zu «The Clash», das polternd Patriarchale setzt aber schon hier den Grundton. Und damit fangen auch die Schwierigkeiten der Inszenierung an.
Karikieren oder differenzieren: Spass versus Sinn
Was im Theater dargestellt wird, wirkt allein durch die Verkörperung, die der Medientransport – vom Buch auf die Bühne – mit sich bringt, gröber und holzschnittartiger als die Novelle. Wenn Keller distanziert ironisch beschreibt, macht er Strukturen sichtbar. Er gibt zum Beispiel den Frauen wichtige Positionen und die eigentliche Handlungskraft in der Geschichte. Seine Figuren können skizziert bleiben, im Lesen vervollständigen wir sie.
Das Theater dagegen hat mit dem Spektakel zu kämpfen. Mannen in Uniform und Bärten wirken auf der Bühne schnell wie Karikaturen ihrer selbst. Durch Spiellust und Präzision mögen sich die Schauspieler und Schauspielerinnen als Bühnenfiguren immer wieder Glaubwürdigkeit erspielen, runde differenzierte Persönlichkeiten werden sie nicht. Und fallen damit dem Aktualitätspostulat der Inszenierung in den Rücken.
Stammtisch-Schweiz: Das Problem mit der Ironie
Ebenfalls mit der Schweiz beschäftigt sich die neuste Arbeit des Aargauer Theater Marie. Die Gruppe hat den Roman «Glaubst du, dass es Liebe war?» des Oltener Autors Alex Capus szenisch umgesetzt. Wie am Theater Basel folgt man auch in Aarau weitgehend der Romanvorlage und erzählt die Geschichte von Harry Widmer Junior (so nennt die Gruppe auch ihren Theaterabend) auf der Bühne nach.
Dieser sei ein Hallodri, ein Betrüger, ein Frauenheld in einer Kleinstadt im Schweizer Mittelland, heisst es gleich am Anfang des Textes und auf der Bühne. Einer, der kurz bevor er seine Velowerkstatt in den Bankrott geritten hat und nachdem er seine Freundin geschwängert hat, einfach abhaut. Nach Mexiko. Dort lebt er auf grossem Fuss weiter und kehrt Jahre später in die Heimat zurück. Weitgehend Ungeläutert.
Wie spricht man über einen Taugenichts?
Die Inszenierung tritt mit einer klaren ästhetischen Setzung an: Vier Frauen teilen sich den Erzählertext chorisch auf. In sportlichem Outfit, Leggins, T-Shirts, besteigen die vier auf der Bühne stehende Fahrräder (Halb Hometrainer/halb Barhocker), strampeln gut gelaunt los und erzählen von Harry Widmer Junior im leicht spöttischen Ton.
Dieser sitzt breitbeinig mit einem Corona-Bier in der Hand auf einem Kühlschrank daneben, hört sich an, wie ihn die Frauen beschreiben und kneift mal der einen in den Schenkel oder gibt der anderen einen Klaps auf den Hintern.
Mentalitäts- und Gendergeschichte
Er habe eigentlich eine unsympathische Figur schreiben wollen, sagte Alex Capus einmal über seinen Roman. Harry Widmer sei ihm dann aber doch zu einer menschlichen, und trotz seiner Untaten liebenswerten, Person geworden. Das ist die Stärke des Romans, die schillernde Beschreibung eines Prototypen, in dem sich viel Gesellschaft spiegeln lässt.
Die erzählerische Distanz, die Capus diese Darstellung ermöglicht, gibt das Theater Marie in seiner Inszenierung zusehends auf. Wenn der sportive Frauenchor am Anfang noch eine (spöttische) Perspektive auf die Hauptfigur zulässt, geben die Spielerinnen diese Verortung auf der Bühne immer mehr auf und identifizieren sich mit den Figuren im Roman – bis zur fast schon kitschigen Liebenszene zwischen Harry und seiner Freundin Nancy am Schluss.
Die Krux mit der (Re-)Präsentation
Szenisch hat auch das Theater Marie den Transport des Romans auf die Bühne gemeistert. Die Gruppe hat dafür eine Bühnenrealitiät erfunden, in der spielerische Lösungen zu einem unterhaltsamen Abend gebündelt wurden. Die Antwort auf die Frage, was sie inhaltlich an diesem Stoff interessiert hat, bleibt allerdings unklar. Indem sie die Distanz zur Hauptfigur immer mehr aufgeben, machen sie die Geschichte von Harry Widmer nicht nur kleiner, sondern erstellen auch ein Mentalitätsbild des Mittellandes, das fragwürdig ist. Eine eindeutige Haltung zum Stoff scheint der Gruppe auf dem Weg der Umsetzung verloren gegangen zu sein.
Prosastoffe sind zweifellos eine Inspirationsquelle für das Theater, aber ihre theatralische Adaption bringt medienbedingte und inhaltliche Herausforderungen mit sich, die sich in der szenischen Umsetzung als Fallen erweisen können.