Es gibt ein altes «du»-Heft, das der Familie Bondy gewidmet ist. Darin erinnert sich Luc Bondys jüngere Schwester, als Halbwüchsiger habe Luc den Eltern Sorgen gemacht. «Das Kind liest nicht», flüsterten Papa und Mama, auf Deutsch, damit les enfants sie nicht verstünden.
Schwerwiegendes Familienerbe
Und wie sollte ein Kind, das nicht liest, es in der Welt zu etwas bringen? Sie selbst, erinnert sich Béatrice Bondy, war damals elf Jahre alt und hatte Proust, Tolstoi und «Die Brüder Karamasow» gut sichtbar auf dem Nachttisch.
Es galt, die Familie nicht zu enttäuschen – François Bondy, der Vater, war ein Homme de lettres mit kosmopolitischem Hintergrund, ein Schweizer Weltbürger; der Grossvater Fritz Bondy bleibt unvergessen unter seinem Nom de plume N. O. Scarpi: ein Meister der funkelnden Anekdoten, Radiohörern in Erinnerung mit seinen so amüsanten wie kenntnisreichen Operneinführungen.
Bondys Motto: so nah heran wie möglich
Aber was tat der junge Luc Bondy, anstatt Romane zu lesen? Er schrieb Theaterstücke für sich um, die er dann inszenierte und in denen er alle Haupt- und Nebenrollen gleich selbst übernahm.
Beiträge zum Thema
- «Die Heimkehr»: Luc Bondy & Bruno Ganz (Echo der Zeit, 22.1.2013)
- «Ich hasse Psychologie», Luc Bondy im Gespräch (Reflexe, 6.11.12)
- Hier inszeniert der Chef: Luc Bondy (DRS2aktuell, 20.10.2012)
- Inszenierung von Luc Bondy (Tagesschau, 16.12.2010)
- Luc Bondy, Regisseur und Romancier (Reflexe, 19.10.2009)
Auch mit Luc Bondy ins Kino zu gehen, war für die jüngere Schwester ein Ereignis. Meist hätten sie während der Ferien in Zürich die Nachmittagsvorstellungen besucht, erinnert sie sich. Luc Bondy sass dann immer in der ersten Reihe ganz nah an der Leinwand, und konnte nicht verstehen, warum ausgerechnet diese Reihe – die beste! – so billig war.
So nah heran wie möglich, das lässt sich wie ein Motto über Luc Bondys Lebensinszenierungskunst schreiben. Wenn Luc Bondy Regie führte, ging es den Figuren, und darum auch den Zuschauern, unter die Haut. Ungeheuer viel verlief da immer unter der Handlungsoberfläche, ein ganzes, virtuoses Netzwerk subkutaner Erzählströme.
Die erheiterndsten und zugleich dunkelsten Theatermomente
Sei es in Shakespeares Dramen – von denen ein besonders vielschichtiges, das «Wintermärchen», eins der wenigen war, das Luc Bondy zwei Mal inszeniert hat; 2010 nahm er sich auch «Les Chaises» von Eugène Ionesco noch einmal vor. Sei es bei Botho Strauss, den er mehrmals zur Uraufführung gebracht hat, sei es bei Pierre Carlet de Marivaux, zu dessen Texten er zeitlebens zurückkehrte.
Marivaux' Versuchs-Spielen kam Bondy psychologische Feinhörigkeit am schönsten zupass. Wie kein Zweiter versteht es Marivaux, seine Figuren in ein Laboratorium der Gefühle zu stecken, aus dem sie am Ende ortlos und orientierungslos herauskommen.
Alles scheint klar konstruiert zu sein, und allem ist der Zweifel an der Konstruktion von Anfang an eingebaut. Die Sprachen des Willens und der Seele laufen nicht synchron, sie decken sich nicht: Daraus entwickelte Bondy die erheiterndsten und zugleich dunkelsten Theatermomente.
Bondy foutierte sich um Regeln
Marivaux' «Triomphe de l’amour» wurde in seiner Inszenierung zu einem Triumph der Berliner Schaubühne in den 80er Jahren; «Les fausses confidences» (Die falschen Vertraulichkeiten) mit einer geradezu elektrisch vibrierenden Isabelle Huppert begeisterte in mehr als hundert Vorstellungen das Pariser Publikum am Odéon-Théâtre de l'Europe, dem er seit 2012 vorstand.
Im Frühling hätte er hier noch einmal einen Shakespeare herausbringen wollen, «Othello», mit einem weissen Hauptdarsteller – der Skandal war in Zeiten des «Blackfacing» vorprogrammiert, zumal in Frankreich, wo kein Mangel an schwarzen Schauspielern herrscht. Bondy foutierte sich um so etwas. Seine Plausibilität war eine andere. Nicht das Abbild interessierte ihn, sondern der Gegenstand. Nicht die Imitation der Natur, sondern ihr versteckter Plan. – Nun ist Luc Bondy am 28. November 2015 im Alter von 67 Jahren in Zürich verstorben.
Sendung: SRF 4 News, Nachrichten, 28.11.2015, 14:00 Uhr.