Freitagnacht, 22:30 Uhr. Die Premiere von «Wir würden hier sein» hat begonnen. Wir sind in einem Luftschutzkeller an der Hirzelstrasse, im Westen Zürichs. Im Bunker ist es angenehmer als erwartet. Es ist warm, das Licht und die Musik sind gedämpft. Es gibt Tee.
Marcel empfängt uns. Der Schauspieler trägt ein goldenes Hemd und eine Hose mit grossen Seitentaschen. Er bleibt in seiner Rolle: «Ich arbeite für die Uchronic Research Society, die U.R.S., und werde die Expedition morgen leiten.»
«Welten wie unsere, nur ganz anders»
Warum wir hier sind? Das Künstlerkollektiv «Invisible Playground» hat zur Übernachtung im Bunker eingeladen. Wer will, kann in die Welt von «Wir würden hier sein» schon am Vorabend eintreten. Eine Bücherwand lädt zum Zeitvertrieb: «Differenz und Wiederholung», «Materie und Gedächtnis», «Virtual History», so einige der Buchtitel. Nur sechs Teilnehmer haben sich hier herunter gewagt.
Am nächsten Morgen stossen weitere 30 Leute zur Expedition. Leiter Marcel begrüsst auch sie und erklärt sein Vorhaben: Seine Organisation, die U.R.S., erforscht Uchronien, auch Parallel- oder Alternativwelten genannt. Welten, in denen die Geschichte an einem gewissen Punkt («Point of divergence») einen anderen Verlauf genommen hat. «Es sind Welten wie unsere, nur ganz anders», erklärt Marcel. «Uns alle gibt es auch in diesen Welten, aber unser Leben hat einen anderen Verlauf genommen», fährt er fort. Und in diese Welten wird er uns führen.
Eine von fünf Rollen: Revolutiönär im Wirtschafts-Paradies Zürich
Es ist sieben Uhr früh. Wir stehen auf der Hardbrücke. Alle tragen Kopfhörer, Marcel hat ein Mikrofon und trägt ein kleines Sendestudio um die Hüfte. Er spielt einen Ton ein, in dem eine Expertin der U.R.S uns mit der Parallelwelt vertraut macht, in die wir später eintreten werden.
In dieser Welt blieb der Schwarze Montag aus, der Börsen-Crash von 1987. Die Märkte wurden hier immerfort dereguliert. 1994 fusionierten die Nahrungsmittelkonzerne Nestlé und Kraft Foods. Firmensitz ist der Prime Tower in Zürich. Wir haben den Tower im Blick, während die Expertin uns das erklärt. Marcel biegt rechts ins Gerold-Areal ab, wir folgen, kreuzen die letzten Nachtschwärmer. Sie lachen uns aus – vielleicht liegt das aber am Rausch.
Der Expeditionsleiter schaltet sich wieder live auf unsere Kopfhörer. Wir erfahren, dass unser Ziel der «Hub» bei den Viaduktbögen ist. Im normalen Zürich Treff und Arbeitsplatz für Jungunternehmer. In der Parallelwelt die Basis unserer Untergrundorganisation. Wir sind Revolutionäre, die versuchen, den Food-Giganten zu sabotieren.
Störenfriede im ETH-Gebäude
Am Anfang der Tour haben wir ein Couvert erhalten. Darin finden sich Beschriebe der verschiedenen Rollen, die wir an diesem Tag spielen müssen. Sie sind für jeden Teilnehmer individuell erstellt worden.
Neben den Zetteln steckt im Umschlag diverser Kleinkram. Anstecker, Bänder, eine Anleitung für Zeichensprache: Das alles brauchen wir, um in den verschiedenen Welten Aufgaben zu lösen. Meist in Form von Spielen.
Highlight unter diesen Spielen ist eine Schnitzeljagd im ETH-Gebäude der Erdwissenschaften. Dort sitzen lernende Studenten, die sich innert kürzester Zeit durch uns lärmende Gamer gestört fühlen. Dies trotz Zeichensprache, mit denen wir die gefundenen Codes übermitteln sollten. Das Spiel zieht uns so in seinen Bann, dass wir die reale Welt vergessen.
Fünf Stunden, fünf Rollen
«Invisible Playground» gelingt es immer wieder, dass die fiktiven Welten für die Teilnehmer sicht- und spürbar werden. Aber zum Einfühlen in diese Welten bleibt kaum Zeit. Kaum drin, muss man sie wieder verlassen.
Die Stadtwanderung dauert fünf Stunden, führt in fünf fiktive Welten. Der Teilnehmer selbst nimmt fünf verschiedene Rollen ein. Gleichzeitig wird die Stadt von Zürich West bis an den Hang des Zürichbergs durchquert – durch Wind und Wetter. Das Gesamtpaket überfordert immer wieder.
«Invisible Playground» hat mit viel Aufwand und Ernst Uchronien entwickelt. Von diesem ganzen Prozess erfahren die Spieler in der Stadt aber nichts. Das ist bedauerlich, denn dem Spieler im Feld fehlt eine übergeordnete Geschichte. In die Feststellung des Titels «Wir würden hier sein», drängt sich deshalb immer wieder die Frage: Weshalb genau sind wir jetzt da?