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Bühne Verdienter Schweizer Grand Prix Theater für das Theater Hora

Seit einem knappen Vierteljahrhundert fördert das Theater Hora die künstlerische Entwicklung von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. Es beweist: Das Andere denken ist möglich. Und immer wieder ein Ereignis. Dafür bekommt es die höchste Auszeichnung für das Schweizer Theaterschaffen verliehen.

Manchmal liegt die besondere Fähigkeit in der vermeintlichen Beeinträchtigung. Zum Beispiel bei jener Frau, die sich langsam, langsam wie keine andere über die Bühne bewegen kann – wer könnte besser eine Schildkröte spielen? Die Zeit verläuft ein wenig anders bei den Hora-Künstlern. Auch wenn sie sich «eine Minute lang» einfach hinstellen sollen. Der eine stiebt sofort davon, der andere bleibt stehen, stehen, stehen – wie lang ist eine Minute?

Bei Momo angefangen

Geduld kann man lernen im Theater Hora, und Hingabe. Wie selten auf der Bühne sind hier alle immer ganz und gar dabei, unterstützen einander, behutsam, geben sich Halt; manches andere Ensemble könnte sich ein Stück davon abschneiden.

Angefangen hat es klein: mit einem Theaterkurs 1989 in einem Wohnheim für geistig behinderte Frauen. «Aber Zeit ist Leben und das Leben wohnt im Herzen» hiess 1993 die allererste Aufführung, nach Michael Endes Roman «Momo». Die Figur des Meisters Hora darin, der die Zeit verwaltet, gab dem Theater den Namen. Und die aufreizend langsame Schildkröte machte Furore.

Hingabe und klare Weltsicht

Was bedeutet es, normal zu leben? Die Befragung scheinbar naturgesetzter Kategorien und der Ausbruch daraus, das eigene Lebensmodell, das sind die Themen, mit denen sich das Theater Hora seither befasst, mittels Stoffen von Shakespeare, Chaplin oder Mozart.

Michael Elber, der Gründer und künstlerische Leiter des Theaters, und Dramaturg Marcel Bugiel haben die Geschichte zum 20-Jahr-Jubiläum in ein prächtiges Buch gepackt. Besonders hübsch ist der Titel: «Der einzige Unterschied zwischen Salvador Dalí und uns ist, dass wir nicht Dalí sind». Neben ihrer hingebungsvollen Bühnenpräsenz ist es auch die klare Weltsicht, die am Theater Hora besticht.

Theater ist eine Möglichkeitsform

«Il sogno della vita», der Traum vom Leben hiess das Stück, in dem ein despotischer Regisseur Fellinis Film «La Strada» eins zu eins auf die Bühne bringen will. Aber die Spieler driften immerzu ab. Sie entgleiten der autoritären Setzung ins Träumen, ins Tanzen, in ihren eigenen Ausdruck.

Dass sich das Andere denken lässt, das ist die ästhetische Utopie dieses Theaters. Dass die Welt, die Gesellschaft nicht notwendig so sein muss, wie sie ist. Selten im Theater kann man so unmittelbar wie in den Hora-Aufführungen erleben, dass die Theaterkunst eine Möglichkeitsform ist.

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In der sich die Demarkationslinien zwischen den Geschlechtern, zwischen Behinderten und Nichtbehinderten, zwischen Traum und Wirklichkeit verschieben lassen, wenn man nur will. Genauso wie die, zum Beispiel, zwischen Erden- und Marsmenschen. In der Science-Fiction-Komödie «Mars Attacks» spielt Hora es durch, zusammen mit den niedlich-hässlichen Knautschpuppen des Berliner Theaters Das Helmi. Anstatt die Welt den Ausserirdischen zu überlassen, konstruieren sie sich da kurzerhand eine neue.

Eine «Freak-Show»?

Der grosse Quantensprung für Hora (und die Theaterarbeit mit Behinderten generell) war aber «Disabled Theater». In der Zusammenarbeit mit dem Choreografen Jérôme Bel spielen die Hora-Künstler sich selbst.

«Mi Mueter het gseit, dass es e Art Freakshow isch», verrät ein Schauspieler dem Publikum, und fügt an: «Aber ire hets ser gfalle.» In «Disabled Theater» gibt es keine Rollen. Es gibt kein So-tun-als-ob, und gerade dieses Schutzlose macht den Abend zum Ereignis. Wir sehen auch im Ungeschützten einen Auftritt. Nicht den Schutz einer Rolle, aber viel Persönlichkeit, und Würde.

Die sehr reflektierte und gleichzeitig unmittelbar berührende Produktion «Disabled Theater» verhalf Hora zum internationalen Durchbruch. Kaum jemand konnte sich der Grazie dieses Theaters entziehen, der Schönheit im Unvollkommenen. «Disabled Theater» wurde an Festivals eingeladen, mit Preisen ausgezeichnet, gefeiert und hitzig diskutiert – darf man Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung solcherart «vorführen»? Wenn sie es nicht wollten, liessen sie sich ohnedies unter keinen Umständen auf eine Bühne bewegen, sagt Michael Elber nüchtern.

Der Grand Prix Theater

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Der Schweizer Grand Prix Theater/Hans-Reinhart-Ring setzt seit 2014 die Tradition des von 1957 bis 2013 von der Schweizerischen Gesellschaft für Theaterkultur verliehenen wichtigsten Schweizer Theaterpreises fort. Die Auszeichnung ist mit einem Preisgeld von 100'000 Franken dotiert.

Verheissungsvolle neue Produktionen

Noch mal einen Schritt über das herkömmliche «Behindertentheater» hinaus geht aktuell ein längerfristiges Projekt, das sie «Freie Republik Hora» nennen und in dem das Ensemble eigene Regiearbeiten und Choreografien entwickelt. Die Hora-Mitglieder ohne geistige Behinderung greifen fast gar nicht mehr ein und bewerten nicht.

Und es geht weiter, mit dem alten Elan und erneuerten Kräften, und frischem Koproduktions-Wind, zu dem der internationale Durchbruch mit «Disabled Theater» verholfen hat. Vor wenigen Tagen erst war die jüngste Premiere: «Der schönste Tag». Darin unterläuft der Hora-Nachwuchs mit fröhlicher Anarchie eine musikalische Hochzeitsgesellschaft.

Und eine Herausforderung verspricht auch die kommende Saison am Zürcher Schauspielhaus: Regisseur Milo Rau wird mit Hora «Die 120 Tage von Sodom» inszenieren, Pier Paolo Pasolinis Gewaltfantasie des Faschismus.

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