Das Théâtre de Vidy in Lausanne ist eines der schönsten Theater in der Schweiz, wenn nicht das schönste. Max Bill hatte es 1963 für die Landesausstellung gebaut hat: ein lichter, offener Betonbau direkt am Genfersee. Es suggeriert schon in der architektonischen Anlage Offenheit, und es ist mit seinen Tourneen und Koproduktionen tatsächlich das weltoffenste in der Westschweiz.
Mit Vincent Baudriller hat das Flaggschiff unter den Theatern der Romandie nun einen Kapitän an Bord geholt, der seinerseits für Offenheit steht: offen für neue Formen und theatrale Abenteuer.
Offenheit und Tempo
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Vincent Baudriller (45) hat während zehn Jahren das Theaterfestival von Avignon mitgeleitet und das Festival in diesen zehn Jahren für neue Formen geöffnet. Er ist nicht nur ein offener und neugieriger Mensch, sondern auch einer mit Tempo: Ende Juli ging in Avignon seine letzte Ausgabe zu Ende, Mitte August zügelte er mit seiner Familie nach Lausanne, Anfang September stand er parat in einem Theater, das auf Hochtouren lief.
Nach diesem Kaltstart geht es ihm nun darum, das Théâtre de Vidy und seine Strukturen besser kennen zu lernen, um dann eine neue Seite aufzuschlagen. Was darauf steht, wird ab Juni 2014 zu sehen sein. Einer der Künstler, die Vincent Baudriller nach Vidy holen will, ist der Deutschschweizer Christoph Marthaler. Mit ihm hat er in Avignon regelmässig gearbeitet. So bringt Vincent Baudriller auch seine künstlerischen Verbindungen nach Lausanne: sein Adressbuch, das sich in zehn Jahren Festivalarbeit gefüllt hat.
Genre-überschreitende Öffnung
Baudriller und seine kaufmännische Co-Direktorin Hortense Archambault haben in ihren zehn Avignon-Jahren manches bewegt und auch manche Debatte ausgefochten. Seit 2003 kämpften sie für die genre-überschreitende Öffnung des Theaterbegriffs in Avignon, in der Tanz, Theater, Performance, bildende Kunst sich gegenseitig befruchten. Sie führten ein System von so genannten Artistes associés ein, also von Gastkünstlern, die je einer Festival-Ausgabe ihre ästhetische Handschrift verliehen.
Darunter waren Schauspielerinnen wie Valérie Dréville, aber auch der deutsche Regisseur Thomas Ostermeier, Tänzer wie Boris Charmatz, Performer wie Joseph Nadj, Gesamtkunstwerker wie Jan Fabre. Grenzgänge hatten sich Vincent Baudriller und Hortense Archambault auf die Fahne geschrieben und mit ihren Grenzgängen schreckten sie ein konservatives Publikum auf – das im Theater vor allem dem schön rezitierten Dichterwort lauschen will.
Baudrillers Theater stellt Fragen
Vincent Baudriller will dem Theater alles Weihevolle nehmen: Theater ist für ihn ein Ort der Entdeckung, der neugierigen Begegnung mit dem Andern, ohne hohe Schwellen, es genügt, neugierig zu sein. Sein Theater ist ein Theater, das Fragen stellt, das stört, das sich selber befragt und in jedem Augenblick heutig sein will – «ein Theater von heute für Leute von heute», wie er sagt. Dies bedeutet für Vincent Baudriller vor allem eines: kreuzen – ganz so wie ein Rosenzüchter eine neue Sorte kultiviert oder ein Obstbauer einen Stamm veredelt. Das Theater nicht in einer einzigen Definition einschliessen. Bild, Text und Körper, die verschiedenen Genres, die verschiedenen Theatertraditionen sollen sich gegenseitig befruchten.
Im französischsprachigen Theater ist in den letzten Jahren eine neue Generation von Theaterschaffenden herangewachsen, die sich nicht nur an ihren eigenen Vätern aus dem französischen Theaterbetrieb geschult haben, sondern auch an internationalen Vorbildern wie dem deutschen Dekonstruktivisten Frank Castorf oder dem melancholischen Clown Rodrigo García aus Argentinien. Diese neue Generation will Vincent Baudriller nach Lausanne holen.
Théâtre de Vidy als idealer Ort
Die Künstler zu begleiten, während der ganzen Entstehungszeit einer Produktion im Haus zu haben und bis zur Premiere zu betreuen – und dies nicht nur sozusagen im Laufschritt, wie es in Avignon der Fall war, wo in der knappen Zeit von drei Wochen ein Vielzahl Produktionen zur Premiere kommt – das ist es, was Vincent Baudriller nach seinen zehn Festival-Jahren gesucht hat.
Darin liegt dann für Baudriller auch der grosse Vorzug des Théâtre de Vidy: Max Bill hatte der Idee eines gemeinsamen Erlebnisses, einer gemeinsamen Begegnung von Künstlern und Publikum einen Raum geschaffe. Es ist wirklich das schönste Theater der Schweiz. Mit hohen Fenstern gruppieren sich die Proben- und Auftrittsräume und die Büros um das grosse, gastliche Foyer mit direktem Auslauf zum See: ein idealer Ort für das Theater als Begegnung mit dem anderen, wie Vincent Baudriller es auffasst.