Eine Kerze flackert am Bühnenrand. Aus der Dunkelheit erscheinen Gestalten im Lichtkegel. Es sind Wesen wie von einem anderen Planeten. Sie kriechen, rutschen, verdrehen sich in unendlicher Schönheit. «Gods and Dogs» ist Studie über das Menschsein, über Emotionen und Abgründe. Wo liegt die unsichtbare Grenze zwischen Normalität und Wahnsinn?
Choreograf Jiří Kylián bringt Licht ins Dunkle. Er sprengt Konventionen und fragt nach Norm und Verrücktheit. Spielerisch flatternde Hände oder plötzliches Zubodenfallen wie ein Stein. Eine Tänzerin kriecht über die Kerze, über den Bühnenrand hinweg und verschwindet in der Dunkelheit. Es scheint, als ob die Tänzerinnen und Tänzer eine fremdartige Welt erkunden. Sie nehmen das Publikum mit auf diese Reise.
Eine eigensinnige Handschrift
Im Hintergrund beginnt der silbern schimmernde Vorhang zu schwingen – wie ein Wasserfall, der sich über die Bühne ergiesst. Tänzer tauchen auf und treten durch ihn ab. Auf der Bühne entstehen poetische Momentaufnahmen und skulpturartige Bilder.
«Gods and Dogs» entstand 2008 für das renommierte Nederlands Dans Theater, das Jiří Kylián als langjähriger Direktor mitgeprägt hat. Seit über 30 Jahren choreografiert er. Keines seiner Werke ist mit dem anderen vergleichbar. Auch «Gods and Dogs» trägt eine eigensinnige Handschrift. Ein Tanzmoment, der die Normalität scheinbar verzögert, wenn auch nur für einen Augenblick.
Pirouetten auf dem Prüfstand
Zwei Tänzerinnen dehnen ihre Füsse auf Spitze, als wären sie auf einer Probe. Das zweite Stück ist eine «Studie über die Elemente akademischer Virtuosität», so beschreibt der amerikanische Choreograf William Forsythe seine Arbeit. Mit «In the Middle, Somewhat Elevated» bricht er klassische Formen auf. Forsythe stellt Elemente wie Sprünge oder Pirouetten auf den Prüfstand. Entstanden ist eine faszinierende Komposition aus Dynamik, Erotik und Virtuosität.
Das Stück gilt als eines der schwierigsten Forsythe-Werke und verlangt dem Ensemble technisch und körperlich alles ab. Immer wieder brechen die Tänzer scheinbar in der Bewegung ab, um unmittelbar darauf wieder mit voller Präsenz einzusetzen. Ein Spiel mit Verlangsamung und Beschleunigung. Die elektronische Musik des niederländischen Komponisten Thom Willems dröhnt und hämmert unbarmherzig. Die Komposition erinnert an eine Maschine. Sie treibt die Tänzer immer wieder zu neuen Höhenflügen an. Die metrischen Schläge versetzen auch das Publikum in eine Art Trance.
«Gaga» ganz ernst gemeint
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Nach der Pause zieht ein Tänzer im Anzug einsam seine Show auf der Bühne ab. Das Publikum wähnt sich plötzlich in einer Art Varieté. Das Licht im Zuschauerraum bleibt an. Bald ist er nicht mehr alleine. Tänzer um Tänzer schliesst sich dem Solotänzer an. Das ganze Ensemble bringt die Bühne mit Groove in Schwingung. Und das Publikum auch.
«Gaga» ist für einmal ganz ernst gemeint. Denn «Gaga» steht für den israelischen Choreografen Ohad Naharin als Ausgangspunkt seines kreativen Schaffens: ein Bewegungssystem, das er in den letzten 30 Jahren entwickelt und verfeinert hat. Zum ersten Mal hat das Ballett Zürich Einblick in die «Gaga»-Welt erhalten und diese staunend in ihr Bewegungsvokabular aufgenommen. Eine Grenzerfahrung, die sich gelohnt hat.
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Buntes Treiben
«The illusion of beauty and a fine line that separates madness from sanity»: Mit diesen Worten eröffnet Ohad Naharin sein Stück «Minus 16». Er schafft es, musikalische Ausschnitte aus ganz verschiedenen Werken zu einer Gesamtkomposition zu vereinen: von Antonio Vivaldis «Nisi Dominus» über Beats aus den 90er-Jahren bis zu volkstümlichen Klängen.
Das Lied «Echad Mi Yodea» über die Grundfeste des Judentums – auch bekannt als Kinderreim – entwickelt Naharin als Schreckensgesang. 35 Tänzer sitzen im Halbkreis und springen, skandieren und stampfen sich zu einer beeindruckenden Einheit.
Zum Schluss treiben es die Tänzerinnen und Tänzer bunt – nicht nur auf der Bühne. Wie das von sich geht, sei hier noch nicht verraten. Nur so viel: Zieh’ dich bunt an!