«Unschuldig» lautet das Urteil, das am Schluss von Milo Raus dokumentarischem Theaterprojekt «Die Moskauer Prozesse» im Sacharow-Zentrum fällt. Die dreitägige Gerichtsshow rollte reale Strafprozesse gegen russische Künstler der Nullerjahre mit realen Angeklagten, Juristen, Künstlern, Staats- und Kirchenvertretern neu auf. Darunter war auch die Verhandlung gegen die Punkband «Pussy Riot», die deren Mitglieder für ihren Kurzauftritt in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale teilweise zu zweijähriger Straflagerhaft verurteilt wurden.
Und ginge es nach den sieben Juroren, die Rau per Zufallsprinzip aus der Moskauer Bevölkerung als Schöffen ausgewählt hatte und die im wahren Leben Bienenzüchter, Fotografen oder Unternehmensberaterinnen sind, wären die Aktionskünstlerinnen also freigesprochen worden.
Komplexer und offener Diskurs
Mindestens so spektakulär wie dieses Abschlussurteil waren allerdings die drei Verhandlungstage im Moskauer Sacharow-Zentrum selbst. Denn der auf brisante politische Themen spezialisierte Schweizer Regisseur, der sich mit diesem Projekt vorgenommen hatte, «Bewegung in die starren russischen Verhältnisse zu bringen», wirbelte auch unser Russland-Bild aufs Produktivste durcheinander.
Der westliche Diskurs kategorisiert ja gemeinhin recht klar in Kunst versus Religion, Dissidenz versus Staatsdoktrin. Bei Rau hingegen gibt es unter den hervorragend gecasteten Beteiligten auch den ultranationalistischen Künstler und Kandinsky-Preisträger, der die «Pussy Riot»-Aktion aufs Schärfste verurteilt und den ranghohen orthodoxen Gläubigen, der Kunst- und Meinungsfreiheit für das höchste gesellschaftliche Gut hält. So gelingt auf der dokumentarischen Theaterbühne tatsächlich ein hochinteressanter, komplexer und offener Diskurs.
Grosses Polizeiaufgebot
Allerdings gab es auch Zwischenfälle, die in unser gängiges Russland-Bild hervorragend passen: Am letzten Verhandlungstag, an dem auch das auf Bewährung verurteilte Pussy-Riot-Mitglied Jekaterina Samuzewitsch auftrat, wurde die Theater-Gerichtsshow von Beamten der russischen Migrationsbehörde unterbrochen.
Milo Rau musste sich ausweisen, sein Visum wurde überprüft. Und als es zwei Stunden später endlich weitergehen konnte, versammelten sich orthodoxe Kosaken und ein grosses Polizeiaufgebot vor dem Sacharow-Zentrum.
Einige Kosaken wurden von den Veranstaltern in den Theatersaal gebeten, damit sie sich davon überzeugen konnten, dass in der Performance keine religiösen Gefühle verletzt wurden. Nach diesen Zwischenfällen verlief die hoch spannende Performance allerdings planmässig.