Ein Zaun, der immer wieder verschoben wird: Das ist das einzige Bühnenelement dieser Inszenierung in den Innenhöfen eines ehemaligen Klosters in Locarno.
Der Zaun symbolisiert einen Grenzzaun. Auf der einen Seite erzählen die Absolventen der Dimitri-Theater-Akademie zusammen mit Flüchtlingen aus Afghanistan, Syrien oder dem Irak deren Fluchtgeschichten.
Auf der anderen Seite befindet sich der Zuschauerraum. Während der Zaun sich verschiebt, sind auch die Zuschauer ständig mit in Bewegung.
In der Hocke über die Grenze
Ein zentrales Element der Fluchtgeschichten sind die Grenzkontrollen. In Bulgarien zum Beispiel mussten die Flüchtlinge in der Hocke vorwärts gehen, die Beine in den Knien, die Hände über dem Kopf.
Auf der Bühne gehen alle im Hockgang – bis auf ein Schauspielschüler, der den Grenzwächter mimt und einen Flüchtling abrupt hochreisst. An dieser Stelle kippt die Choreografie. Der Mann zitiert aus einem syrischen Gedicht.
«Unsere Kinder haben Seelenschäden erlitten», ruft er: «Sie verknöchern in ihren Träumen. Sie schreien und treten mit den Füssen, wie unter Folter.»
Wechselseitige Stütze
Meist aber brauchen die Dimitri-Schüler und die Laiendarsteller bloss ihre Körper, um die unterschiedlichen Fluchtgeschichten zu erzählen. Regisseur Volker Hesse lässt die 26 jungen Menschen tanzen. Er lässt sie wortlos singen. Er lässt sie rennen, bis sie vor Erschöpfung taumeln.
In Slow Motion wandeln Menschen durch den Raum, die versuchen in tiefer Erschöpfung voranzukommen. Die Theaterschüler und die Flüchtlinge stützen sich dabei wechselseitig.
Sie haben sich über ihre Körpersprache auch zu verstehen gelernt. Damit konnte Hesse die riesigen Sprachbarrieren überwinden, mit denen er und sein Team zu kämpfen hatten.
Vertrauen finden
Durch die gemeinsame Körperarbeit sei es gelungen, Vertrauen herzustellen, sagt Volker Hesse: «Ich war mir der Gefahr einer Retraumatisierung bewusst. Doch in dieser Gruppe ist viel Vertrauen entstanden und Bereitschaft, sich zu öffnen.»
So konnte jeder Flüchtling seine Geschichte in das Stück miteinfliessen lassen. Selbst wenn es um drastische Erlebnisse ging, wie etwa, dass auf dem Weg durch die Wüste vor Durst Benzin getrunken wurde.
Mahnung während der Mahlzeit
Neben all der Hoffnungslosigkeit, die sich in den Gesichtern der Spielenden spiegelt, gibt es gegen Ende der Inszenierung auch einen heiteren Moment. Die Flüchtlinge und die Schauspielschüler, die meist die hiesige Bevölkerung mimen, sitzen an langen Tischen und essen Speisen aus Afghanistan.
Auch die Zuschauer sind zu diesem Mahl eingeladen. Ein Bild des Angekommenseins, des Friedens. Bis die Stimmung wieder kippt.
Denn Volker Hesse beendet das Stück mahnend. Er weist darauf hin, dass europäische Rechtspopulisten wie Salvini & Co. dieses friedliche Miteinander gefährden. Unter anderem mit einem Spruchband, auf dem ein Spruch Salvinis zu lesen ist: «Lasst unsere Kultur in Ruhe.»
Richtig nahe
Theatermann Hesse ist überzeugt: Ohne Nähe kann es kein Verständis geben. In «Avanti, Avanti, Migranti!» erlebt man das Leiden der Flüchtlinge unmittelbar, sinnlich – eine Erfahrung, die ein Radio- oder Fernsehbericht nicht leisten kann. Das ist der das grosse Plus dieser Aufführung.
Man kommt denen, die auf der Flucht sind, richtig nahe. Man ist nur durch einen Zaun getrennt.