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Hans-Thies Lehmann gestorben Der Vater des «postdramatischen Theaters» ist tot

Ein Buch über Theater wird zum Bestseller? Das klingt mehr als unwahrscheinlich. Hans-Thies Lehmann hat es geschafft. Nun ist der Theaterwissenschaftler 77-jährig gestorben.

Der Begriff ist längst selbst Theatergeschichte. Doch als Hans-Thies Lehmann 1999 seine Studie über das «postdramatische Theater» veröffentlicht hat, war die Aufregung gross.

Er beschreibt darin verschiedene Theaterformen, die sich seit den 1960er- und 1970er-Jahren im Westen entwickelt haben und die nicht mehr den dramatischen Text ins Zentrum stellen. Es geht um ein performatives Theater, das damals noch eher marginal an Festivals und in der freien Szene zu sehen war. Heute ist es Mainstream.

Grosse Wirkung und ein paar Missverständnisse

Viele experimentelle Theaterschaffende und Performancegruppen waren froh, einen Begriff zu haben für ihre Arbeiten. Endlich gab es eine Antwort auf die Frage, ob das denn noch Theater sei, was sie machen. Postdramatisches Theater eben.

Andere nahmen Lehmann seine Analyse übel und unterstellten ihm Textfeindlichkeit. Ein absurdes Missverständnis, konterte Hans-Thies Lehmann. Er habe ein Leben lang über die Antike, über Bertolt Brecht oder Heiner Müller geforscht. Es gehe ihm nur darum, historische Konventionen zu hinterfragen und die Augen zu öffnen für Theatermittel wie Musik, Licht, Ton oder Bewegung, die im zeitgenössischen Theater mindestens so wichtig seien wie der Text.

Performances, Installationen, dokumentarisches Theater: Die Formenbreite im zeitgenössischen Theater ist gross. Wenn Lehmann über Theater schrieb und forschte, ging es ihm dementsprechend nie um eine Institution, sondern um eine soziale Praxis.

Als Theoretiker in der Praxis geerdet.

Zusammen mit Andrzej Wirt gründete Lehmann in den 1980er-Jahren das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Universität Giessen, eine der wichtigsten Theaterschulen im deutschsprachigen Raum der letzten Jahrzehnte.

Dass Lehmann mit dem «postdramatischen Theater» ein Bestseller gelungen ist, zeigt sich auch daran, dass das Buch in mehr als zwanzig unterschiedliche Sprachen übersetzt wurde. Lehmann gab Workshops auf der ganzen Welt und war als Lehrer für Generationen von Theaterkünstlerinnen und -künstler ein wichtiger Begleiter in der praktischen Arbeit.

Das Theater ist kein Museum

Der Regisseur Christoph Marthaler, das Theaterkollektiv Rimini-Protokoll oder der Musiktheatermacher Thom Luz: Sie alle machen im weitesten Sinn ein postdramatisches Theater. Ein Theater, das sich als Teil einer sich verändernden Gesellschaft versteht. Ein Theater, das nicht an den Theatermauern aufhört. Ein Theater, für das Hans-Thies Lehmann einen Begriff gefunden hat. Und damit die Realität entscheidend geprägt hat.

Nun ist der Theatervisionär nach schwerer Krankheit mit 77 Jahren in Athen gestorben.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 18.7.2022, 17:20 Uhr

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