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Musicals im Lizenz-Korsett Warum verändern sich die Klassiker wie «Cats» und Co. kaum?

Erfolgsmusicals wie «West Side Story», «König der Löwen» oder «Cats» werden seit Jahrzehnten auf den Bühnen der Welt gespielt. Lizenzzwänge machen ihnen zu schaffen, darum verändern sich die Inszenierungen kaum. Warum nur?

Ein Akkord, ein Fingerschnippen und schon sind wir im Amerika der 1950er-Jahre – und mitten in der Geschichte der «West Side Story»: In den heruntergekommenen Strassen der New Yorker Upper West Side kämpfen zwei Jugendbanden gegeneinander: die «Jets» gegen die «Sharks» – Söhne weisser Amerikaner gegen puerto-ricanische Einwanderer.

Es geht um die Vorherrschaft im Viertel, aber auch um Identität und den Platz in der Gesellschaft. Und dann verliebt sich der «Jet» Tony ausgerechnet in Maria, die Schwester des «Shark»-Anführers Bernardo.

Die Liebe von Tony und Maria ist eine grosse, aber unmögliche Liebe. In einem Amerika, das seit jeher an Rassismus und Intoleranz krankt, ist sie zum Scheitern verurteilt.

Zwei Gruppen junger rivalisierender Männer stehen sich im New York der 1950er gegenüber.
Legende: Grosse Stadt, grosse Rivalität, grosse Liebe: Szene aus dem Musical «West Side Story», Leonard Bernsteins Broadway-Hit von 1957. Johann Persson

Mit seinem Remake des «Romeo und Julia»-Stoffs schrieb Leonard Bernstein 1957 Musicalgeschichte. Bis heute ist die «West Side Story» eines der meistgespielten Musicals überhaupt. Derzeit ist es auf Welttournee, die Inszenierung des Regisseurs und Broadway-Altmeisters Lonny Price ist bis Anfang März 2023 in der Schweiz zu sehen.

In den 1950ern stehengeblieben?

Die Geschichte von Tony und Maria spielt in den 1950er-Jahren. Und dort bleibt sie in der Inszenierung von Lonny Price auch: von den Kostümen mit Petticoats bis zum Frauenbild, das veraltet anmutet. Verweise auf die aktuelle US-amerikanische Einwanderungspolitik und Donald Trumps Mauer zu Mexiko sucht das Publikum vergeblich.

Mann, circa 70 Jahre alt, balanciert ein Buch auf seinem Kopf.
Legende: Dirigent, Komponist, Pianist – und Jongleur: Am Rande einer Orchesterprobe in Ostberlin balanciert Leonard Bernstein (1918-1990) die Partitur seiner «West Side Story». ullstein bild / Getty Images

Ihm sei es wichtig gewesen, den sozialkritischen Charakter des Stückes zu unterstreichen, so Price. Das Stück sei zwar schon 65 Jahre alt, aber die Themen, die dort verhandelt werden, so aktuell wie am Tag der Uraufführung. «Das Musical zeigt eine alte Geschichte, mit der die Menschheit immer noch ringt. Wir leben nach wie vor in einer Welt voller Hass und Fremdenfeindlichkeit», so der Regisseur.

Kontrollinstanzen statt Kreativität?

Seit der Uraufführung 1957 gab es kaum Veränderungen an der Originalinszenierung der «West Side Story». Das hat nicht nur ästhetische Gründe: Die Übernahme grosser Erfolgsmusicals ist meist bis ins kleinste Detail vertraglich vorgeschrieben.

Etliche Kontrollinstanzen, Produktionsfirmen, Rechteinhaberinnen und Nachlassverwalter wachen im Sinne der Erfinderinnen und Komponisten darüber, dass Originalmusik, -tanz, -texte und -kostüme nicht ohne Weiteres verändert werden.

Urheberrechte – darum geht's

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Ein Werk ist urheberrechtlich geschützt, sobald es geschaffen ist – unabhängig davon, ob es auf einem Träger festgehalten ist oder nicht. Der Schutz erlischt 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers. Produktionsfirmen, Rechteinhaberinnen und Nachlassverwaltende können ihr Veto schon bei der Änderung kleinster Details einlegen.

Mit «Romeo und Julia», dem Vorbild der «West Side Story», dürften Regisseurinnen und Regisseure machen, was sie wollen. Bei Musical «West Side Story» dagegen sind die Rechte nach wie vor im Besitz der Erben der vier Urheber Leonard Bernstein (Musik), Stephen Sondheim (Texte), Arthur Laurents (Buch) und Jerome Robbins (Choreografie).

Bei Änderungswünschen müssen alle vier Seiten zustimmen. Erst wenn das Urheberrecht erlischt und das Stück in den Besitz der Allgemeinheit übergeht, können Darstellende und Inszenierende das Stück auf die Bühne bringen, wie und wo sie wollen.

Vorgaben lockern sich nur langsam

Manche Musicals dürfen bis heute ausschliesslich in der Originalinszenierung aufgeführt werden, sagt Britta Heiligenthal, künstlerische Leiterin des Theaters Neue Flora in Hamburg. «Egal, wo auf der Welt, wenn das Publikum zum Beispiel zu ‹König der Löwen› geht, bekommt es diese Kunst, diese sehr berühmte Inszenierung von Julie Taymor zu sehen. Das ist die Idee dieser Lizenzproduktionen.»

Gerade die grossen Produktionsfirmen sind sehr dahinter, dass ein Stück aufführbar bleibt.
Autor: Britta Heiligenthal Theater Neue Flora

Bei «Les Misérables», basierend auf Victor Hugos Klassiker, sind dagegen seit einigen Jahren Neuinszenierungen möglich. 2019 kamen die singenden Strassenkatzen aus Andrew Lloyd Webbers «Cats» als Realverfilmung in die Kinos.

Und «Wicked» von Stephen Schwartz und Winnie Holzman kam 2021 im Theater Neue Flora in Hamburg in einer modernen und aktualisierten Version auf die Bühne. Obwohl das Broadway-Musical seit 2003 erfolgreich und international in der New Yorker Originalinszenierung aufgeführt wird.

Ein Musical mit der Lizenz zur Hexerei

«Natürlich müssen Autorinnen und Komponisten – und letztendlich die Lizenzgeber – zustimmen, dass man etwas neu inszenieren darf. Wir hatten das Glück, dass der Komponist Stephen Schwartz aktiv vor Ort dabei war und uns trotzdem viel Freiraum gelassen hat», so Heiligenthal.

«Wicked» erzählt von der Freundschaft zweier starker und mutiger Hexen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Die hübsche Glinda ist allseits beliebt, für Elphaba und ihre grüne Hautfarbe haben alle nur Hohn und Spott übrig. Im Zauberreich von Oz lauern jede Menge Gefahren, und immer wieder müssen sich Elphaba und Glinda fragen: Was ist böse und was gut?

Zwei verkleidete Personen, dem Publikum zugewandte Frauen in Hexenkostüm.
Legende: Die Geschichte der grünen Hexe Elphaba: Das Musical «Wicked» darf man getrost als «Neuinszenierung» bezeichnen. Brinkhoff Moegenburg

Die Hamburger Version greift Rassismus- und Diskriminierungsaspekte, Klimaschutz und Genderdebatten auf und thematisiert den Einfluss von Social Media und Fake News. Musikalisch blitzen in der neuen Inszenierung Hip-Hop-Beats und Electro-Klänge auf.

Die ursprünglichen Rüschenkostüme im Stil des 19. Jahrhunderts wurden unter anderem durch Schulkleidung im Harry-Potter-Stil oder grellgrüne Uniformen ersetzt. Letztere erzählen von tyrannischer Gleichschaltung.

Kitsch, Kommerz, Klischees?

Anpassungen sind vor allem dann nötig, wenn die Vorlage inhaltlich problematisch oder nicht mehr zeitgemäss ist. «König der Löwen» zum Beispiel wird inzwischen seit 25 Jahren gespielt und gilt als das erfolgreichste Musical aller Zeiten. Dennoch steht es immer wieder in der Kritik.

Figuren aus König der Löwen auf einer Musicalbühne.
Legende: Berühmt und erfolgreich, aber nicht mehr zeitgemäss? Der Dauerbrenner «König der Löwen» steht zunehmend in der Kritik, überkommene Klischees zu bedienen. Leonard Adam / Getty Images

Der Vorwurf: Musik und Kostüme steckten voller Klischees und Exotismus. Im Zweifelsfall werde immer nachgebessert, sagt Britta Heiligenthal vom Theater Neue Flora. «Wir sind bewusster geworden – ob es um das Gendern oder um People of Colour geht. Gerade die grossen Produktionsfirmen sind sehr dahinter, dass ein Stück aufführbar bleibt.»

Das Publikum will (nicht nur) Altbekanntes sehen

Neben dem Zeitgeist spiele auch die Erwartungshaltung des Publikums eine grosse Rolle bei Musicalinszenierungen, so Heiligenthal. Denn Musicalshows wie «Wicked», «West Side Story» oder «König der Löwen» haben eine grosse Fangemeinde, die auch kleine Veränderungen durchaus bemerkt.

«Ich finde, man muss da immer ganz transparent sein und erklären, was die Leute zu sehen bekommen. Und dann kann ja jede und jeder für sich entscheiden, ob sie oder er lieber das Original sehen möchte oder eine neue Inszenierung.» Die grossen Klassiker der Musicalwelt werden sowieso immer Klassiker bleiben.

Aufführungshinweis

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Das Musical «West Side Story» ist noch bis Ende Januar in Zürich im Theater 11 zu sehen. Anschliessend wird die Inszenierung von Lonny Price und seinem Team in Lausanne gezeigt.

Radio SRF 2 Kultur, Künste im Gespräch, 19.1.2023, 9:05 Uhr

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