Kuttner live erleben heisst: Da steht einer mutterseelenallein auf einer Bühne und erklärt das Abendland, mal kurz durch 2000 Jahre Geschichte, vermessen, grossartig. Bei Kuttner hängt alles zusammen, egal ob Hoch- oder Popkultur. Kuttner ist grenzenloses Denken. Und er ist ein Performer.
Wir haben einen Telefontermin. Draussen ist November und 20 Grad. Bauarbeiter giessen die Zukunft in Beton. Es tutet. Begrüssung – welche Vorläufer hat der Philo-Slam? Kuttner startet durch: «Philo-Slam beginnt ja bei Sokrates. Da ist der Anfang der mündlichen Philosophie. Sokrates auf dem Athener Marktplatz, der Agora, war der Wissens-Geburtshelfer. Der gab keine Statements ab, keine Sätze, entwickelte keine Systeme. Er stellte Fragen. Das ist in der Philosophie ein vergessener Ansatz, Fragen zu stellen. Heute haben wir Spezialisten für alles, für Hirne, Chirurgie, für Schauspiel und Kunst und für gefälschte Abgasstatistiken. Für alles gibt es Spezialisten, die uns vom Denken entlasten. Dabei wäre das ein neuer, weil vergessener Ansatz: Selber denken. Das hielt in der klassischen Philosophie jedenfalls bis Aristoteles und seinen Peripatetikern, die in ihrer Wandelhalle unterwegs waren und im Dialog miteinander dachten.»
Damals auf dem Marktplatz war's besser
Kuttner redet in einer affenartigen Geschwindigkeit, Berliner Idiom, atmet selten. Ich schreibe mit. Die rechte Hand streikt, Ausschütteln, weiter. Draussen giessen sie weiter futuristischen Beton.
«Seit 2000 Jahren haben wir eine akademische Philosophie, von der sich normale Menschen nicht angesprochen fühlen. Das war zu Beginn bei Sokrates, damals auf dem Marktplatz, anders.» Heute gebe es das kaum noch, die Philosophie in der Mitte der Gesellschaft. Der «Rest der Welt hört doch gar nicht mehr zu! Gehen Sie doch mal in eine Buchhandlung und fragen sie nach den Verkaufszahlen. Philosophie dürfte weit hinter moderner Lyrik liegen. Die ist aus der Gesellschaft gefallen. Die ist extrem spezialisiert in Systeme, Schulen, Kategorien: Neo-Kantianer, Heideggerianer, Luhmänner, und alle grenzen sich ab. Philosophie könnte wieder grundlegende Fragen stellen, einen Wertekanon schaffen. Orientierungspunkte wären nötig. Philosophie könnte wieder aufscheinen als zentrales gesellschaftliches Denken, nicht als akademisches Fussnotendenken, wo einer die 20 vorhergehenden Arbeiten zum Thema durchforstet hat und seiner eigenen am Schluss noch irgendwie eine Wendung abtrotzt.»
Philosophie sei heute mehrheitlich ein selbstreferentielles System. Da komme nur mit, wer dazu gehöre, und wer nicht mitkomme, gehöre auch nicht dazu. «Das muss alles einfacher gehen. Mit anderen Fragestellungen: Welche Stellung hat der Mensch in der Welt? Was liesse uns die Gesellschaft als eine menschlichere beschreiben? Eine Philosophie von einer elementaren radikalen Schlichtheit.»
Von Descartes zu Dieter-Thomas Heck
Kuttner macht einen Punkt, «Schlichtheit» verklingt noch. Frage: «Wo waren aus Ihrer Sicht Höhepunkte in der philosophischen Diskussion?» Kurzes Nachdenken. Dann: «Descartes. Diese drei Worte auf Latein: Cogito ergo sum. Ich denke, also bin ich. Das ist wohl weit mehr als eine philosophische Funktionsbeschreibung. Wenn man von da den Spannungsbogen vorwärts denkt zu Juliane Werding (eine deutsche Singer-Songwriterin der 1980er-Jahre), die damals gesungen hat: ‹Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst› – in aller Selbstwidersprüchlichkeit, da findet in der ZDF-Hitparade der sokratische Marktplatz statt.»
Sendungen zum Thema
Kuttner! Von Sokrates zu Dieter-Thomas Heck in drei Zeilen. Wen er heute schätze, frage ich ihn, da kommt ein Wasserfall – aber am meisten schätze er den «diffamierten Slavoj Žižek», noch nicht mal wegen der Positionen, die er vertrete, sondern «weil der jeden Tag zwei Stunden lang vor Publikum steht, vorträgt, diskutiert, Videos zeigt», kreuz und quer, das sei lebendige Philosophie. «Es geht also.»
Meine rechte Hand geht zum Kinesiologen. November. 20 Grad. Die Bauarbeiter machen Pause, ein Radio läuft, die Stones singen: «Time is on my Side.» Das Gespräch ist zu Ende.