Das Wichtigste in Kürze
- Der Schweizer Theatermacher Milo Rau hat in Berlin 60 Abgeordnete aus der ganzen Welt versammelt.
- Die sogenannte «General Assembly» sollte jenen Menschen eine Stimme geben, die sonst keine Lobby haben.
- Die geplante Verabschiedung einer «Charta für das 21. Jahrhundert» musste aus Zeitgründen vertagt worden.
«Du wirst gewählt»
«Das ist alles nur Theater», sagte Kushi Kabir gleich am Beginn der General Assembly und lachte. Sie war gerade zur Präsidentin gewählt worden. «Ich habe vorher Milo Rau gefragt: ‹Was ist, wenn ich nicht gewählt werde?› Aber er hat nur geantwortet: ‹Du wirst gewählt.›»
Zwei Tage lief alles wie geplant. Sitzung folgte auf Sitzung, Vortrag auf Vortrag, Abstimmung auf Abstimmung. Dann trat Tugrul Selmanoglu ans Mikrofon.
Die Krux mit dem Genozid
Er sprach über den türkischen Völkermord an den Armeniern, bei dem 1915/16 bis zu 1,5 Millionen Menschen ums Leben kamen. Selmanoglu, der der türkischen Regierungspartei AKP nahesteht, bestritt das Verbrechen. Es habe nur legitime Verteidigungsaktionen der Türken als Reaktion auf vorherige Angriffe der Armenier gegeben.
Nach dieser Behauptung, brachen im Saal die Proteste los. Abgeordnete meldeten sich zu Wort und forderten den Ausschluss Selmanoglus aus der «General Assembly». Jemand, der einen Genozid leugne, könne nicht Mitglied eines Weltparlaments sein.
Milo Rau gab dem Drängen nach, was sofort weitere Debatten nach sich zog: Kann man einen Abgeordneten aus einem Parlament ausschliessen, nur weil er nicht die Mehrheitsmeinung vertritt?
Fakten sind nicht verhandelbar
«Man kann über vieles diskutieren, aber nicht über historische Fakten», erklärte Milo Rau. «Da kommt der demokratische Diskurs an seine Grenzen». Muss man die «General Assembly» also als gescheitert betrachten?
Das kommt auf den Blickwinkel an. Milo Rau wollte mit der Veranstaltung darauf hinweisen, dass es keine internationale Organisation gibt, welche die Menschheit selbst vertritt. Überall geht es um die Interessen von Staaten, um Machtpolitik, die auf ökologische und soziale Belange keine Rücksicht nimmt.
Bühne für die Marginalisierten
Die «General Assembly» sollte Menschen, die keine Lobby haben, eine Stimme geben: Arbeitern aus der Dritten Welt, Flüchtlingen, Umwelt- und Internetaktivisten. Aus diesem Personenkreis stammen die weitaus meisten Abgeordneten.
Jedem wurde Redezeit eingeräumt. Als Zuschauer konnte man in geballter Form sehr viel über die Probleme der Welt erfahren. Spannend!
Beschränkte Redezeit
Doch die Versammlung stand unter einem enormen, selbst erzeugten Zeitdruck. Milo Rau wollte in nur drei Tagen, mit insgesamt 19 Stunden Sitzungszeit, das gesamte Themenspektrum abhandeln: Friedenspolitik, globale Wirtschaftsfragen, Migration, Kultur und Umweltschutz.
Die Redezeit der einzelnen Sprecher musste so stark begrenzt werden, dass nur sehr oberflächlich diskutiert werden konnte. Immer wieder wurden Debatten mit dem Hinweis auf die Uhr abgewürgt. Ärgerlich.
Schlussresolution lässt auf sich warten
Es gab eine vorbereitete Schlussresolution, über die Abschnitt für Abschnitt abgestimmt wurde. Wirklich demokratisch wirkte die Vorgehensweise nicht, da es kaum Zeit gab, den Text zu hinterfragen.
Das sah am dritten Versammlungstag auch Milo Rau ein. Er versprach, die Resolution unter Berücksichtigung aller Veränderungsvorschläge überarbeiten zu lassen und sie dann den Abgeordneten zur Unterschrift zuzuschicken. Eine Abstimmung über diese Verfahrensweise gab es nicht.
Es waren Vertreter von allen Kontinenten dabei, Menschen mit sehr verschiedener beruflicher und sozialer Herkunft. Doch warum sollten ausgerechnet sie für die Menschheit sprechen? Niemand wusste, nach welchen Kriterien Milo Rau die Abgeordneten ausgewählt hatte.
Ernst und Engagement
Politisch betrachtet fehlte der «General Assembly» also die Legitimation. Da sie jedoch auf einer Theaterbühne stattgefunden hat, kann man sie trotzdem als gelungenes Experiment betrachten.
Alle Beteiligten haben mit grossem Ernst und Engagement durchgespielt, was passieren könnte, wenn es wirklich ein Weltparlament gäbe. Die Idee ist getestet worden und rückt schon allein dadurch, ihrer Realisierung ein Stück näher.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 6.11.2017, 17:15 Uhr