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Bühne Schweizer Stoff und Regiearbeit auf Berliner Bühnen

Zwei der bedeutendsten Bühnen in Berlin eröffnen die Saison mit starker Schweizer Beteiligung: Christoph Marthaler nimmt Abschied von der Volksbühne – Thom Luz musikalisiert Max Frisch am Deutschen Theater. Faszinierend, flirrend.

Nichts bleibt so, wie es ist an der Berliner Volksbühne, wenn Frank Castorf geht und Chris Dercon kommt, wir haben darüber berichtet. Die vorläufig letzte Volte im Zwist geht darum, wer Schlingensief entdeckt hat: Es wird zunehmend surreal.

Aufräumen und Aussortieren

Christoph Marthaler macht daraus kein Cabaret. Er kam einst, vor 25 Jahren, mit Frank Castorf aus Basel nach Berlin. Sein Abend «Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter» eröffnet nun die letzte Castorf-Saison an der Volksbühne.

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«Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter. Eventuell von Christoph Marthaler, Anna Viebrock und Ensemble» ist an der Volksbühne Berlin zu sehen.

Natürlich geht es in dem Abend auch – wie stets bei Marthaler – um Abschiede, ums Wegräumen und Aussortieren, um Künstler, die nicht abtreten wollen. Und zum Beispiel einen Hausmeister, der ungerührt aufräumt.

Natürlich sind auf Anna Viebrocks Bühne nur noch helle Tapetenränder zu sehen, wo einst Kunst gehängt haben muss. Aber zuvörderst ist «Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter» eins: der pure Marthaler.

Spiel mit Anspielungen

«Eventuell» ist ein Schlüsselbegriff an diesem Abend. Es steht schon auf der Eintrittskarte: «eventuell von Christoph Marthaler, Anna Viebrock & Ensemble». Man sollte dies nicht überlesen. Denn darin steckt natürlich Dercon, die Event-Kunst, die viele vom Neuen an der Volksbühne befürchten.

Darin verbirgt sich gewiss auch das englische «eventually», das ein Ende insinuiert. Darin verbirgt sich aber vor allem der ganze Marthaler: die Kontingenz, die all seinen Abenden immer schon eingeschrieben ist.

«Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter» ist gespickt mit Anspielungen. Den Titel hat Marthaler sich, leicht verdreht, bei Botho Strauss geborgt – dessen Stück «Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle» beschreibt ein «Museum von Leidenschaften» – erloschenen.

Eine Art Museum zeigt auch Anna Viebrocks Bühne, und Christoph Marthaler im Wiedersehen mit vielen alten Bekannten, in Transportkisten werden die Marthaler-Stars hereingekarrt, kunstgerecht verpackt, und wie Statuen aufgestellt.

Ein Wermutstropfen Resignation

Dies zielt natürlich wieder auf Dercon, der aus dem Kunstbetrieb kommt; lässt sich aber geradeso gut selbstironisch lesen: Über die 25 Jahre der vergehenden Ära ist die Volksbühnenkunst zum Monument ihrer selbst geworden. «Muss denn jedesmal bei meiner silbernen Hochzeit gerauft werden!» fragt Marthaler denn auch an einer Stelle (mit Karl Valentin).

Es ist ein flirrender Abend, voller offener und versteckte Bezüge, namentlich auch Marthalers allererste Produktion an der Volksbühne, «Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab!» aus dem Jahr 1993 spiegelt sich darin, mit einem Wermutstropfen Resignation.

Marthaler zelebriert einen Abschied, aber auch eine Ära, und vor allem die Kunst, seine Kunst – und der Zuschauer fühlt sich reich beschert.

Einen Schritt weiter

Der junge Schweizer Regisseur Thom Luz hat sich einen Namen gemacht mit einem Musik-Theater, das ganz klar von Christoph Marthaler geprägt ist – das war seine Zürcher Theatersozialisation. Aber Luz geht ebenso klar auch einen Schritt weiter.

Musik ist bei Thom Luz nicht wie in Marthalers Abenden ein Fenster hinaus in eine andere, eventuell bessere Welt; Musik ist ihm die Bühnenwelt schlechthin. Thom Luz eröffnet nun in Berlin die Spielzeit am Deutschen Theater mit einem Schweizer Stoff: «Der Mensch erscheint im Holozän».

Theaterszene: Menschen auf einer Bühne im Nebel.
Legende: Betörende Blick in den Nebel: Max Frisch nach Thom Luz in Berlin. Deutsches Theater/Arno Declair

Musikalisches Nebelbild

Max Frischs Erzählung vom Sichverlieren – im regenverhangenen Tessin, in der zunehmenden Vergesslichkeit – nimmt er zur Inspiration für ein musikalisches Nebelbild.

Auf einer komplett weissen, dämmerigen Bühne fügen sich Musik von Beethovens «Pastorale» bis zu Bartóks «Mikrokosmos», Textfetzen aus Frischs Erzählung, melancholische Tessiner Lieder zum Pastiche des Verschwindens.

Eine skurrile Fremdenführerin macht die Runde, aber auch fahrende Klaviere, eine prekäre Behausung, skulpturale Lichtstrahlen. Und stets ein wenig abseits, nie ganz dabei der Schauspieler Ulrich Matthes, der Frischs Protagonisten, diesen verzweifelten Herrn Geiser, ganz ungewöhnlich leise und zerbrechlich spielt.

Aufführungshinweis

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Thom Luz' Inszenierung nach der Max Frischs Erzählung «Der Mensch erscheint im Holozän» läuft am Deutschen Theater in Berlin.

Thom Luz setzt die Texte ein wie musikalische Motive, verwebt alle Elemente zur Bühnenpartitur. Das gelingt nicht immer, stellenweise sträuben sich die Worte dagegen, Erzählung und atmosphärische Stimmung rivalisieren.

Dennoch bietet dieser Abend (der in Koproduktion mit dem Theater Basel entstanden ist) einen betörenden Blick in den Nebel des Verschwindens.

Glück und Gefahr

Lassen sich die beiden Produktionen miteinander vergleichen? Der Altmeister Marthaler und Thom Luz, der gerade durchstartet? Marthalers Abend ist gewiss virtuoser komponiert, da sitzt alles und das All-Star-Ensemble ist perfekt eingespielt, das ist es bei Thom Luz noch nicht – wie auch?

Beides sind sehr kunstfertige Abende, die ihre Kunst auch gern ausstellen – was man bei Marthaler beglückt zur Kenntnis nimmt, bei Thom Luz eher als Gefahr. Faszinierend ist, wie beide sich der nämlichen Thematik des Verschwindens auf gänzlich unterschiedliche Weise annehmen.

Christoph Marthaler nimmt Abschied und verteilt viele kostbare Souvenirs – Thom Luz erforscht eine Phänomenologie des Sichverlierens.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur. Kultur kompakt, 26.9.2016, 17:15 Uhr

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