Wer wenige Stunden Zugfahrt auf sich nimmt, kann – ohne die Schweizer Grenze zu überqueren – in ganz unterschiedliche Theaterwelten abtauchen: Im Tessin und in der Westschweiz sieht das Theater anders aus als in Basel oder Zürich. Das ist ein kultureller Reichtum, den kaum ein anderes Land so ausgeprägt kennt. Wie kommt das?
Theatraler Röstigraben
Da sind einmal die Sprachunterschiede. Mit ihnen kommt die Orientierung zu einer anderen Theatertradition. Die Westschweizer Szene hat sich lange nach Paris ausgerichtet, während die Theaterschaffenden aus dem Tessin oft in Italien arbeiten.
Die Deutschschweiz wiederum ist Teil der deutschsprachigen Theaterlandschaft, die historisch eine zweigeteilte ist: Es gibt einerseits die Stadttheater, die Repertoire-Theater machen, und andererseits die freie Szene, die projektbasiert arbeitet.
Tessiner Gruppen sind kaum bekannt
Der Röstigraben ist also auch im Theater präsent. Und wenn man so will, ist der Polentagraben sogar noch tiefer. Ausser der Gruppe «Trickster-p» ist in der Deutschschweiz kaum eine andere Tessiner Gruppe bekannt.
Trotz der kurzen Wegstrecken und der Übersichtlichkeit des Landes treffen sich die Szenen kaum. Ist das Interesse aneinander einfach zu gering?
Föderalistisches Korsett
Dass das Schweizer Theatertreffen diese Situation ändern wollte, ist sinnvoll. Leider hat das Festival es in den letzten Jahren nicht geschafft, das verkrampft föderalistische Korsett attraktiv genug zu gestalten, um das Theatertreffen zu einem wirklichen Treffpunkt der unterschiedlichen Szenen und des Publikums zu machen.
Dabei ist das Theater der Schweiz in den letzten Jahren offener und vielfältiger geworden. Es gibt mehr internationales Theater und es gibt viele performative, installative Formen, die ohne Sprachbarrieren auskommen.
Körperliche Theatersprache
Nicht von ungefähr touren diejenigen Gruppen und Künstler am meisten, die eher eine körperliche, nicht textbasierte Theatersprache haben.
Die Clownfrau Gardi Hutter, die seit mehr als 30 Jahren im Tessin lebt, ist eine der wenigen Künstlerinnen, die nicht nur auf der ganzen Welt, sondern auch in allen drei Landesteilen auftritt.
Übers Ausland zu den Nachbarn
Nicht selten schafft es eine Schweizer Gruppe erst auf dem Umweg übers Ausland zu einem Gastspiel in einen anderen Landesteil. Wenn eine Theaterinszenierung in Brüssel oder Berlin funktioniert, dann hat sie grössere Chancen, dass sie auch in Lugano oder Lausanne verstanden wird.
Nicht von Sprachgrenzen aufhalten lassen
In Lausanne, am Théâtre de Vidy, zeigt Vincent Baudriller seit vier Jahren, dass sich gutes, lebendiges Theater nicht von Landes- und schon gar nicht Sprachgrenzen aufhalten lässt.
Selbstverständlich stehen im Programm des Vidy lokale und Deutschschweizer Künstler nebeneinander und auf Augenhöhe mit anderen internationalen Künstlerinnen.
So wird die Sprachvielfalt zu einer Inspiration und nicht zu einem Graben, den man überspringen oder zuschütten muss.