Der Abend beginnt mit einem Paukenschlag. Der japanische Musiker Shogo Yoshii ist ein Zeremonienmeister, präzis und ausdrucksstark. Seine Schläge auf die Trommelfelle hallen eindrucksvoll durch den Zuschauerraum.
Ab Konserve setzt ein üppiger Orchesterklang ein, eine Komposition von Szymon Brzoska. Er hat sie dem Tanzstück «Noetic», in der Choreografie von Sidi Larbi Cherkaoui, original auf den Leib geschrieben. Sie ist emotional und dramatisch wie die Filmmusik eines amerikanischen Blockbusters.
Alles kreist
Zu diesen Klangwolken rollen einige der 18 Tänzer der GöteborgsOperans Danskompani über den Boden. In ihrer Mitte eine japanische Tänzerin, die mit jeder ihrer Bewegungen die Liegenden mitbewegt, als wären sie Blätter im Wind.
Alles pulsiert und kreist. Im weiss ausgeleuchteten Raum entstehen Duos, Trios und Quartette. Sekunden später haben sich die Formationen wieder aufgelöst. Die schwarzen Kleider der Frauen schwingen weit. Die Männer, im eleganten Zweireiher, halten mit.
Während ein Tänzer wie ein Wissenschaftler über die im Raum und zwischen den Dingen energetisch wirksamen Kräfte doziert, fallen andere in den Text mit ein. Sie verstärken ihn durch synchrone Bewegungen und Gesten, die an indische Mudras (eine Art «Fingeryoga») erinnern.
Auf Stahlreifen kreist die Energie
Bald beginnen die Tänzer damit, auf dem Boden lange, schwarze Stahlbänder zu verlegen. Sie heben sie an den beiden Enden in die Höhe und formen zusammen eine filigrane Kuppel. Aus Reifen neben- und übereinander schaffen sie Variationen neuer Raumbilder, zwischen denen sich die Tänzer wundersam hindurchbewegen.
Geschaffen hat das Bühnenbild der englische Bildhauer Antony Gormley. Trotz der fliessenden und runden Bewegungen der Tanzenden strömt der Raum eine geometrische Strenge aus.
Am Ende von «Noetic» heben die Tänzer gemeinsam ein aus den Stahlreifen gefertigtes, riesiges Gebilde hoch, eine Art Modelluniversum, luftig und durchlässig. Auf seinen Bahnen scheinen die tänzerischen Energien weiterzukreisen.
Über Grenzen hinweg
Einen ganz anderen Charakter hat «Icon», das zweite Stück des Abends. Es ist zwei Jahre später, 2016 entstanden. Zusätzlich zu den Mitgliedern des Göteborger Ensembles sind solche aus Cherkaouis eigener Kompagnie Eastman dazugestossen.
Beide Stücke gehören eng zusammen, denn in beiden werden, tänzerisch wie sprachlich verwoben, grundsätzliche Fragen des Seins verhandelt. Und auch hier haben der Choreograf Cherkaoui und der Bildhauer Gormley kooperiert.
Diesmal sind über drei Tonnen Ton das Material. Während am Anfang ein paar Männer und Frauen in weiten Gewändern und Pluderhosen wilde, ekstatische Tänze vollführen, sitzen die anderen im Hintergrund und klopfen den Ton zu Masken zurecht, die sie sich später auf den Kopf und vors Gesicht klatschen werden. Alles ist hier erdig und in warmen Tönen gehalten.
Assoziationen an eine Zivilisation lange vor unserer tauchen auf. Ein Mann formt sich einen übergrossen Penis, eine Frau zwei riesige Tonbrüste. So taumeln sie aufeinander zu und fallen ineinander. Irgendwann vertauschen sich die Geschlechterrollen. Dieses Spiel über Gendergrenzen hinweg ist bezeichnend für die Arbeit Cherkaouis.
Zwei Meilensteine an einem Abend
Zu Livemusik und kraftvollen Frauenstimmen aus dem Süden Italiens und dem fernen Osten werden Rituale und Feste zelebriert. Bei diesem Choreografen vermischen sich westliche und östliche Kulturen – und stehen als Statement für menschliche Bereicherung.
Auch in dieser Hinsicht sind die beiden Stücke «Noetic»/«Icon» zwei Meilensteine im Werk des belgisch-marokkanischen Choreografen. Das Premierenpublikum war offenbar auch dieser Ansicht und applaudierte überwältigt.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktuell, 13.4.18, 8.20 Uhr