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Theaterpremiere in Bern Die grosse Kraft der Verunsicherung

Julia Haenni ist eine der bemerkenswertesten Schweizer Jungdramatikerinnen. Das zeigt ihr neustes Stück «Frau verschwindet (Versionen)», uraufgeführt zur Saisoneröffnung am Konzert Theater Bern.

Eine Frau will Brötchen holen, aber der Autoschlüssel ist weg, der Hase ist auch nicht mehr da, und der Zahn tut weh. Ein auf den ersten Blick normaler Morgen scheint da aus dem Ruder zu laufen.

Eine Frau – mit dem schön allgemeingültigen Namen Frau Meier – verliert sich. In sich selbst, in den Stimmen in ihr drin, in den Stimmen all der Frauen, die sie plötzlich in ihrem Schlafzimmer ansummen.

Dramatikerin Julia Haenni liebt Situationen, die gleichermassen absurd sind und zum Schmunzeln anregen, wie sie auch ein wenig unheimlich sind. Denn da verschiebt sich was im Alltag. Es wird ein wenig mulmig. Der sichere Boden fängt an zu schwanken.

Eine Frau schau aus einem Fenster auf der Theaterbühne.
Legende: Was ist wohl mit der Vorbesitzerin der Wohnung passiert? Schauspielerin Irina Wrona in «Frau verschwindet (Versionen)». Annette Boutellier

Die grosse Kraft der Verunsicherung

So war es auch in Haennis Theatertext «Frau im Wald» (uraufgeführt im Aargauer Theater Marie): Die Autorin legte Spuren aus, sie führten in alle Ecken von Frau Meiers Wohnung und Frau Meiers Selbst, in den Wald, zur Frau Meier von gegenüber, zum Hasen Max, der vielleicht auch der Lebensabschnittspartner Max war. Lebensrealitäten lösen sich auf ins Absurde. Stimmen verlieren sich in alle Richtungen. Alltagsreste verschieben sich wie im Traum – oder im Albtraum. Das Weltverhältnis büsst seine Stabilität ein.

Das ist was Positives. Es liegt grosse Kraft in der Verunsicherung, der ist Julia Haenni auf der Spur. Sind die «geordneten Verhältnisse», die «Evidenzen» und die stereotypen Bilder erst einmal erschüttert, steht dem Spiel mit dem Neuen nichts mehr im Wege. Dann werden die Möglichkeiten vielfältig bis zur Unendlichkeit.

Eine Frau verschwindet

Den schlauen Kniff wendet Julia Haenni jetzt auch in ihrem neusten Theatertext an: «Frau verschwindet (Versionen)», uraufgeführt soeben zur Saisoneröffnung am Konzert Theater Bern.

Im Untertitel «Versionen» klingt es schon an: Eindeutig ist hier nichts. Eine Frau kommt in eine leere Wohnung – womöglich ist es auch eine Bühne. Im leeren Raum dieser verlassenen Bühnenwohnung stellt sie sich vor, was passiert sein könnte.

Sie imaginiert eine Frau, der die Wohnung gehört (haben mag), sie malt sich aus, wohin sie gegangen ist, was ihr widerfahren ist. Ist sie einkaufen gegangen, entführt worden, gar einer Sexualstraftat zum Opfer gefallen («statistisch gesehen wäre das erstmal das naheliegendste»). Oder hat sie doch nur einfach ein Joghurt geholt?

Zwei Frauen liegen am Boden
Legende: Trocken und sehr absurd: Die Protagonistinnen von «Frau verschwindet» betreiben ein lustvolles Spiel der Möglichkeiten. Annette Boutellier

Trocken, absurd, phantasievoll

Es kommt eine zweite Frau hinzu, später eine dritte, gemeinsam spielen sie das Spiel der Möglichkeiten. Optionen eines Verschwindens. Und immer achten sie darauf, bei ihrem Phantasieren nicht in die Falle von Rollenklischees zu tappen («Einkaufen?», dann könnte sie auch gleich Prosecco trinken …).

Es ist einerseits lustvoll, sehr trocken, sehr absurd, sehr phantasievoll, anderseits hat es auch was unendlich Befreiendes in dieser Offenheit und Ungewissheit.

Personengrenzen lösen sich auf

Julia Haenni hat «Frau verschwindet» als Hausautorin fürs Berner Theater geschrieben. Es ist ein Theatertext, der Eigenwilligkeit mit Bühnentauglichkeit verbindet. Er lässt sich lyrisch lesen und dramatisch, atemlos oder stockend, schwebend oder mit Nachdruck, aber er muss jedenfalls in mehrstimmigem Unisono erklingen.

Personengrenzen und Sprechsituationen, Dialog, Monolog, Kommentar, lösen sich auf, hörbar wird die Stimme einer Frau. Nicht mehr, nicht weniger – und, wohlverstanden: «Damit sind alle gemeint, die sich als Frauen verstehen und als Frauen leben wollen, unabhängig von ihrem sogenannten sozialen Geschlecht und damit unabhängig von vorgefertigten Daseinsformen.»

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