Ihr Statement kam prompt und unmissverständlich: Am 24. Februar unterschrieb Tschulpan Chamatowa den Appell von russischen Künstlerinnen und Intellektuellen und bezeichnete den Angriffskrieg auf die Ukraine als «Schande».
Dass sie danach nicht weiter in Moskau leben könne, sei ihr sofort klar gewesen, erzählt die Schauspielerin in ihrer Garderobe des Neuen Theaters Riga. Seit diesem Frühling gehört sie zum Ensemble in Lettland.
Reflektierte Mitschuld
Tschulpan Chamatowa wirkt gefasst, ohne ihre Verletzlichkeit zu verstecken. Sie reflektiert offen über ihr vormaliges Leben und über ihre Mitschuld am Krieg.
Ich habe lange daran geglaubt, dass sich die russische Gesellschaft verändern lässt.
«Ich habe seit zwanzig Jahren kein russisches Fernsehen geschaut, sondern mich auf unabhängigen Social-Media-Kanälen informiert. Ich lebte in meiner Bubble, in meiner kleinen Welt.» Welche Kraft die staatliche russische Propaganda habe, das verstehe sie erst jetzt.
Generation Gorbatschow
In Russland gilt Tschulpan Chamatowa als eine der besten Film- und Theaterschauspielerinnen ihres Landes. Bei uns kennt man sie aus dem Film «Good Bye, Lenin!» von 2003, in dem sie die sowjetische Freundin von Daniel Brühl spielt.
In der Sowjetunion geboren, mit der Politik von Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung) aufgewachsen, ist sie eine typische Vertreterin ihrer Generation. Gorbatschow habe ihr Denken und ihrer Vorstellung von Freiheit geprägt. Sie habe lange daran geglaubt, dass sich die russische Gesellschaft verändern liesse.
Auf der Bühne meinen Schmerz und meine Verzweiflung ausdrücken zu können, hilft mir.
So hat sich Chamatowa nicht nur als Schauspielerin einen Namen gemacht. Noch bekannter ist sie für ihre Wohltätigkeitsarbeit. Mit der Stiftung «Leben schenken» hat sie in den letzten 15 Jahren zehntausenden von krebskranken Kindern eine Behandlung ermöglicht.
Kooperation mit Putin
Für dieses Engagement hat sie auch mit der Regierung kooperiert. 2012 trat sie in einem Wahlvideo für Putin auf und sagte, dass er viele Krankenhäuser gebaut habe und damit das Leben vieler Kinder gerettet hat.
«Faktisch ist das wahr», sagt Chamatowa. Dennoch sei die Unterstützung von Putin von heute aus gesehen ein Fehler gewesen, den sie bereut. Es sei eine andere Zeit gewesen.
Zwei Jahre später habe sie abgelehnt, als sie gefragt wurde, den Brief zu unterschreiben, dass die Krim zu Russland gehöre. «Bei den letzten Wahlen haben sie mich dann nicht einmal mehr meine Unterstützung angefragt. Da kannten sie meine Meinung.»
Theatersolo über die Kraft der Propaganda
Inzwischen lebt Tschulpan Chamatowa mit ihren Töchtern seit neun Monaten in Riga im Exil. Dass sie wieder Theater spielen kann, sei keineswegs selbstverständlich.
Zusammen mit dem Regisseur Alvis Hermanis hat Chamatowa mit «Postscriptum» ein eindrückliches und erschreckendes Theatersolo über die Kraft der Propaganda und die Abgründe der russischen Kultur gemacht.
«Auf der Bühne meinen Schmerz und meine Verzweiflung ausdrücken zu können, hilft mir, die Situation besser zu verstehen», sagt Chamatowa. Die Vorstellungen am Neuen Theater Riga sind ausverkauft.
Für die Produktion wurde sie mit dem höchsten Theaterpreis Lettlands ausgezeichnet: als beste Schauspielerin des Jahres. Eine russische Künstlerin in einem lange von der Sowjetunion besetzten Land – auch das ist heute alles andere als eine Selbstverständlichkeit.