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Augusto Boal: «Ich und mein Theater»
Aus Sternstunde Kunst vom 14.04.2013.
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Bühne «Wehrt euch!» – Boals «Theater der Unterdrückten» bleibt aktuell

Der Brasilianer Augusto Boal hat in den 60er Jahren das «Theater der Unterdrückten» entwickelt – ein Theater der Befreiung. Diese revolutionäre Theaterform machte Furore und bleibt bis heute aktuell.

Bei dieser Theatermethode wird die Beziehung zwischen den Schauspielern und dem Publikum neu definiert. Boal fordert die Zuschauer auf, sich von ihrer passiven Rolle zu emanzipieren und zu befreien. «Wenn sie erst zu Protagonisten geworden sind, werden sie auch fähig sein, die Waffen des ‹Theaters der Unterdrückten› zu gebrauchen», sagt Boal. Das Publikum soll berührt werden, hin zur politischen Bewusstwerdung und schliesslich zur Aktion.

Die Wirklichkeit verändern

Noch heute leisten zahlreiche Gruppen mit Boals Theatermethoden wertvolle Basisarbeit. Das «Theater der Unterdrückten» will die Wirklichkeit nicht nur widergeben, sondern sie zu Gunsten der Unterdrückten verändern.

Die Befreiungspädagogik oder «Pädagogik der Unterdrückten», von Paulo Freire war für Boal in den 60er-Jahren der Ausgangspunkt. Gemeinsam mit Freire engagierte Boal sich in Alphabetisierungsprojekten. Er übernahm Freires Begriff und wandte ihn auf das Theater an. Die Geschichten, die inszeniert werden, sind meist Geschichten aus dem Leben der verarmten, unterdrückten Bevölkerung. Gespielt wurde meist auf Dorfplätzen, Kirchentreppen und Lastwagen.

Von der Militärdiktatur gefangen und gefoltert

Das politische Klima in Brasilien wurde ab 1964 immer repressiver. Mit der Errichtung der Militärdiktatur wurden Künstler und Wissenschaftler kontrolliert und verfolgt. Boal liess sich nicht mundtot machen, schliesslich wurde er 1971 gefangen genommen und gefoltert. Jean Paul Sartre, Arthur Miller und Jacques Lang protestierten gegen die Verhaftung.  Nur dank internationalem Druck kam Boal schliesslich frei. Er musste Brasilien verlassen.

Das «unsichtbare Theater»

Von 1971 bis 1976 lebte Augusto Boal in Buenos Aires im Exil. Dort entwickelte er aus der Not heraus, das «Unsichtbare Theater». Dabei wird eine Szene wird im öffentlichen Raum aufgeführt. Sie muss so aufgebaut sein, dass sie die Zuschauenden zum Handeln motiviert. Diese wissen nicht, dass es sich bei der Szene um inszeniertes Theater handelt.

«Das unsichtbare Theater» war die einzige Möglichkeit, sich dem Zugriff der Polizei zu entziehen, die jede angekündigte Aufführung verbot. Nach wenigen Jahren musste Boal auch Argentinien verlassen. Er ging nach Portugal und Frankreich. In Paris unterrichtete er an der Sorbonne und gab Workshops in allen europäischen Ländern. Seine Ideen verbreiteten sich in kürzester Zeit. Denn gesellschaftliche Unterdrückung war auch in Europa ein grosses Thema.

Rückkehr nach Brasilien

1986 kehrte Boal nach Brasilien zurück und wurde Stadtrat von Rio de Janeiro. In den 90er-Jahren entwickelte er das sogenannte «legislative Theater». Mit Interventionen der Zuschauer werden dabei im Theater neue Lösungen erarbeitet. Mit dem Ziel, die Ergebnisse in neue Gesetze einfliessen zu lassen. Das Hauptziel von Augusto Boal blieb die Aktivierung des Publikums, das sich emotional engagieren und so emanzipieren sollte. Boal wollte Veränderungskraft freisetzen mit seinem Theater.

Daran arbeitete er bis zu seinem Tod, am 2. Mai 2009. Er starb im Alter von 78 Jahren an den Folgen einer Leukämieerkrankung. Seine Theatermethode lebt weiter. Seine Theaterform ist aus dem theaterpädagogischen Alltag nicht mehr wegzudenken und wird heute noch in zahlreichen Workshops weltweit gespielt.

Vier Fragen an Boal-Experte Henry Thorau

Henry Thorau

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Legende: srf

Thorau ist Professor für Kulturwissenschaften an der Universität Trier. Er hat die Werke von Boal übersetzt. 2013 erscheint sein Buch «Unsichtbares Theater». Kennengelernt hat Thorau Boal 1976 in Portugal.

Henry Thorau arbeitete häufig mit Augusto Boal zusammen: «Das ‹Theater der Unterdrückten› hat meinen Theater-Horizont erweitert und nachhaltig geprägt. Ich wurde so zu sagen zu seinem deutschsprachigen ‹Anwalt›. Ich präsentierte ihn in der ‹Zeit›, in ‹Theater heute› und gab 1979 seine Schriften in der ‹edition suhrkamp› heraus.» Über die Jahre entstand eine Freundschaft.

Henry Thorau, was hat Sie an Augusto Boal fasziniert?

Es war diese Form eingreifenden Theaters, die Boal wörtlich nahm und fortsetzte, umsetzte in die Realität, also diese Forderung Brechts, das Theater in die »Vorstädte zu tragen«. Dabei versuchte er vor allem die Benachteiligten zu motivieren, sich zu wehren. Aber auch Boals Charisma spielte eine Rolle, er konnte Menschen begeistern!

In welchem Zusammenhang stand in den 60er-Jahren das Theater der Unterdrückten mit den Befreiungstheologen und der «Pädagogik der Unterdrückten»? Wie beeinflussten sie sich gegenseitig?

Boal arbeitete 1973 mit Paulo Freire gemeinsam in einem Alphabetisierungsprojekt in Peru. Boals Beitrag war die »Alphabetisierung mit den Mitteln des Theaters«, wie er sagte. Freires Begriff war zuerst. Boal übernahm Freires Begriff und wandte ihn auf das Theater an. Die Befreiungstheologie war für Boal ebenfalls wichtig, Priester in Basisgemeinden in Brasilien und anderen lateinamerikanischen Ländern griffen und greifen noch heute immer wieder auf Boals Methoden zurück.

Ihr neustes Buch »Unsichtbares Theater« wird jetzt gerade publiziert. Was fasziniert heute noch an dieser Methode?

Buch-Hinweis

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Henry Thorau: «Unsichtbares Theater», Alexander Verlag, 2013.

Aus der Perspektive der Macherinnen, der Akteure ist es so faszinierend, weil sie es schaffen, Kontakt zu wildfremden Menschen herzustellen. Mit ihnen über Themen zu kommunizieren, die gesellschaftlich unter den Nägeln brennen, die betroffen machen, aber oft verdrängt werden. Workshopteilnehmer geben immer wieder das Feedback, die Erfahrung mit dem «Unsichtbaren Theater» sei wie ein Verhaltenstraining. Sie würden künftig auch in realen Situationen nicht mehr wegsehen, sondern sich einmischen.

Ich glaube auch, dass Boals Konzept und seine Techniken im Kontext der Re-Politisierung des Theaters und kreativen Formen zivilen Ungehorsams zunehmend an Bedeutung gewinnen.

Was können wir heute noch von ihm lernen?

Knapp auf die Formel gebracht: Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt!

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