- Die Nacht hat ihre ganz eigene Logik. Die Wahrnehmung verschiebt sich, Distanzen schmilzen zusammen.
- Die Nacht hat andere Gesetze als der Tag, andere Kräfte: da kommen Träume, Ängste, Gesichte, Süchte, Triebe.
- Früher war die Nacht eine Zeit, um ausser sich zu geraten. Heute wird gearbeitet.
Der Mond ist aufgegangen
Am Anfang des Films steht Dalain da, erzählt mit charmantem Akzent von der Nacht, und unseren Ängsten aus Kindertagen. Dann: Dämmerung, Menschen und Vieh kehren heim. Abendbrot. Schnitt. Draussen geht die Sonne unter. Eine Glühbirne. Schnitt. Rasende Stromturbinen. Schnitt.
Dalain erzählt ohne Kommentar aus einer Welt, die uns seltsam vertraut und fremd zugleich erscheint. Er hat das Personal der Nacht versammelt: Kinder, die ins Bett der Mutter kriechen. Wenn einer keine Mutter hat, dann tue es auch der Vater, weiss ein kleiner Junge. Ein Fackelzug mit Blasmusik und Höhenfeuer am 1. August.
Die Arbeiter der Nachtschicht in einer Giesserei. Ein Schlaf-Forscher weckt eine Versuchsperson und fragt nach den Träumen. Ein erholsamer Schlaf sei lebenswichtig, weiss der Forscher, bereits nach drei durchgemachten Nächten träten Fehlbilder und Halluzinationen auf. Der Schlaf sei ein anderer Bewusstseinszustand.
Sendungen zum Thema
- Das magische Leuchten der Polarnacht (Kulturplatz, 7.1.2015)
- Wie Träume unser Leben bestimmen (Sternstunde Philo., 23.11.14)
- Die Nacht bringt's an den Tag (Hörpunkt, 2.12.2012)
- Die Nacht aushalten (Hörpunkt, 2.12.2012)
- «Die Nacht aus Blei» von Hans Henny Jahnn (Hörspiel, 13.12.2014)
- Weniger Licht! (Kulturplatz, 7.1.2015)
- Sternenfotograf und Schlagzeugbauer (Virus Voyage, 29.12.2015)
- Die Nacht löst die Zunge (Hörpunkt, 2.12.2012)
- Der Verlust der Nacht und die Macht des Tages (Hörpunkt, 2.12.12)
Und dann: Das Nachtleben. Wurstbratereien, Kneipen. Viel Alkohol, rezenter Rauch. Prostituierte. Rosenverkäufer. Die Notrufzentrale. Die Nacht ist die Zeit, um ausser sich zu geraten. Ein obdachloser Schläfer wird geweckt, Reisende aus dem Bahnhof geführt. Der Nachtwächter des Lausanner Münsters, ein Leuchtturmwärter an der Nordsee. Nachtwache.
Die Nacht ist ein Zeit-Raum
Karthausermönche singen ihr Nachtgebet. Vielstimmig, zurückgenommen. Dalain zeigt die, die die Nacht bevölkern. Die Nacht ist ein Zeit-Raum im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn sich die Wahrnehmung verschiebt, Distanzen zusammenschmilzen. Wenn die Farben verschwinden, Konturen und Kontraste das Bild machen. Wenn es still wird.
Die Nacht hat andere Gesetze als der Tag, andere Kräfte: da kommen Träume, Ängste, Gesichte, Süchte, Triebe. Im Dunkel und Schutz der Nacht. Die Nacht ist kulturell besetzt: Als Gegenwelt zum Gesitteten wird sie beschrieben, das Rationale hat da ausgedient.
Sie sei, wie Nietzsche wusste, «tiefer als der Tag gedacht.» Baudelaire packt sie in Verse, Rainald Goetz in Internetprotokolle, Schönberg verklärt sie in Töne, Velazques, Goya, Hopper malen und Matthias Claudius verewigt sie: «... der weisse Nebel wunderbar ...»
Dr. Jekyll wird zu Mr. Hyde, der Mensch zum Tier. Die Nacht ist verrucht und Fünfe sind gerade. Verlorene Nighthawks sitzen an Theken, warten auf ein erlösendes Gegenüber. Jede Nacht ist ein Vorgeschmack auf die eine Ewige.
Und heute?
Von alldem bewegen wir uns immer weiter weg: Irgendwo ist immer Tag, wird weiter gearbeitet. Arbeit hat sich globalisiert, in der digitalen Welt ist immer geöffnet. Die Logik des Tages greift auf die Nacht über. Die Nacht als Gegenwelt wird zum UNESCO Weltkulturerbe werden, wenn wir so weitermachen.
Konnte man als Langhaariger in Dalains Film nachts um zwei sicher sein, unter sich zu sein und eine Flasche billigen Roten kreisen lassen, werden heute die letzten Geschäftsmails abgearbeitet. Schauen Sie mal, wer Nachts um Zwei alles noch arbeitet!
Viele machen die Nacht zum Tage aber nicht so verlottert, wie's mal gemeint war. Sternengucker fluchen über Elektrosmog. In der hellerleuchteten Nacht sind nur noch graue Katzen grau. Seit Jahren werden Eingangstüren produziert, die haben gar keine Schlösser mehr. Geöffnet ist immer.