Inglin sei «ein eminent sinnlicher, plastisch schildernder Autor», sagt Peter von Matt, der Germanist und Autor, im Interview. Er habe ihn noch kennengelernt, das müsse in den 60er-Jahren gewesen sein. Er, von Matt, war damals am Germanistischen Seminar in Zürich, Assistent von Emil Staiger. Staiger wiederum war so etwas wie der Mentor von Inglin.
Drei (Vor-)Urteile
Inglin sei «freundlich, umgänglich und witzig gewesen. Er hatte einen kleinen Freundeskreis. Er war Dichter, kunstbewusst, hat den Leuten nicht nach dem Maul geredet.» Letzteres erklärt wohl den kleinen Freundeskreis im katholischen Schwyz, wo er mit seinem ersten Roman für einen Skandal sorgte und für einige Zeit wegziehen musste.
Von Matt schätzt ihn als «markanten Schweizer Autor mit einem eigenständigen Profil, nicht verwechselbar», der zudem aus dem Raum komme, in dem er, von Matt, «zuhause ist».
Dieser Inglin hat ein Image, das sich aus Lesarten und Urteilen zusammen setzt. Drei Lesarten, die man stehen lassen kann, aber nicht muss:
1. Inglin, der staubtrockene Chronist
Damit verbindet sich die Sicht, er präsentiere Faktenskelette mit wenig Fleisch am Knochen. Von Matt findet, das stimme «so nicht. Er hat immer hart recherchiert. Das schon. Aber wenn man zum Beispiel den ‹Schweizerspiegel› nimmt: Das ist der Versuch, die ganze Schweiz in den Kriegsjahren zwischen 1914 und 1918 modellhaft literarisch zu organisieren.
Inglin kombiniert hier dokumentarische Rahmentexte, eine objektive historische Ebene also, mit einer weit verzweigten Familiengeschichte. Also das dokumentarische Erzählen einerseits und das der fiktionalen Szenen andererseits. Das ist stilistisch sehr interessant, hat ganz unterschiedliche Tonalitäten. Da ist Inglin seiner Zeit voraus, dies zu kombinieren, in Beziehung zu setzen.»
Inglin beschreibt im «Schweizerspiegel» seine Heimat zur Zeit des 1. Weltkrieges : «In einer Zeit der grossen Krise, die Schweiz droht auseinander zu brechen. Soldaten, depressiv wartend, die zwischen dem Gefühl von Sinnlosigkeit und Heldentum schwanken.»
Inglin hat gewusst, wovon er redete, das Meiste hatte er als Soldat und Offizier selbst erlebt. Das Resultat: 1000 Seiten Roman, weit mehr als trockene Dokumentation. Eher die Psychologie einer Nation.
2. Inglin, der strenge Autor
Er habe seinen Stoffen jedweden Humor ausgetrieben, ist eine weit verbreitete These. Von Matt sagt: «Das stimmt so nicht. Nehmen Sie ‹Der Robbenkönig›. Ein Dialektstück. Der Titel wurde übrigens erst nach seinem Tod gesetzt. Das ist witzig, gescheit, berührend. Das ist die Geschichte von einem Heimkehrer, einem Lügner und Flunkerer, der die Leute glauben macht, er habe eine grosse Karriere gehabt. Irgendwann zieht er sich den Zorn der Spiesser zu und muss sich absetzen. Oder ‹Das Begräbnis eines Schirmflickers›. Das hat etwas von Kalendergeschichten, mit einem ganz eigentümlichen Humor versehen, genau durchgearbeitet, präzise. Die lokalen Politiker, die darin auftauchen, hat Inglin in seinem Umfeld genau recherchiert. Die sind so genau getroffen – deren Dialoge erscheinen scharf satirisch.»
3. Inglin, der Bauernautor
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Dass viele Leser Inglin nicht kennen, sei darin begründet, dass sein Personal fast ausnahmslos aus Bauern bestehe. Auch diese Sicht, stimmt so nicht. Inglin hat zwar nie die ganz grossen Auflagen erreicht, aber das als Misserfolg zu werten, ist überzogen. Immerhin sind von seinem Werk bereits zwei Gesamtausgaben erschienen. Das mit dem «Bauernautor» lässt von Matt nicht gelten: «Der ‹Schweizerspiegel›, der eben wieder neu aufgelegt wird, ist ein Stadtroman, er spielt in Zürich, im Bürgertum, Inglin ist ein Autor, der von der Polarität zwischen Natur und Urbanität erzählt – aber kein Bauernautor.» Auch sein Erstling, «Die Welt in Ingoldau» war das kritische Panorama einer Schweizer Kleinstadt.
Und heute?
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Heute erscheint Inglin als ein Autor mit einem breiten Spektrum unterschiedlicher literarischer Genres, stilistisch abwechslungsreich, sprachlich durchkomponiert. Mit «Urwang» erschien 1954 der erste ökologisch engagierte Roman der Schweiz. Inglin war der erste, «der gegen die systematische Zerstörung der alpinen Kultur durch die Technik protestierte, auf höchster literarischer Ebene, noch immer von brennender Aktualität», sagt von Matt.
Daneben ist er natürlich «dieser grausame Realist, der das Leben mausarmer Bergbauern in ‹Die graue March› beschreibt, wie keiner nach ihm.»
Fragt man von Matt danach, warum den Inglin denn «niemand auf dem Schirm» habe, dann lacht von Matt schallend. «Das Gespräch hätten wir so vor 40 Jahren schon führen können. Er ist seit Jahren genau der, von dem Viele sagen, man hätte ihn ‹nicht auf dem Schirm› und ist allen deshalb so präsent. Die Frage ist doch vielmehr: ‹Was macht den Kerl so interessant, dass er nicht verschwindet?› Er hat einen festen Platz in der Schweizer Literatur des 20. Jahrhunderts. Er hat nie auf Effekt geschrieben. ‹Wort für Wort steht da und Wort für Wort soll gelten›. Das war sein Anspruch. Er hat mir oft gesagt: ‹Es IST so›. Er hat versucht, Verhältnisse zu beschreiben, wie sie SIND. Eine Haltung, die nach dem ganzen postmodernen Klimbim auf eine neue Art interessant ist.»