Auf den ersten Blick war alles wie immer. Die Stars des Abends, in diesem Fall das spanische Schauspiel-Pärchen Penélope Cruz und Javier Bardem, schritten im Blitzlichtgewitter über den roten Teppich.
Nur wer genauer hinschaute, merkte: Irgendwas war anders. Irgendwie wirkte alles kontrollierter, gesitteter und altmodischer als in den letzten Jahren. Woran das lag? Richtig, die Selfies fehlten.
Längst haben wir uns daran gewöhnt, dass Social-Media-affine Schauspieler auch auf Gala-Premieren zum Smartphone greifen, um den Event aus eigener Sicht zu dokumentieren. Festivalleiter Thierry Frémaux war dieser Anblick schon immer ein Dorn im Auge. Deshalb bat er die geladenen Stargäste bereits vor drei Jahren inständig darum, die Handys beim Gang über den roten Teppich in der Tasche zu lassen.
Rigoroses Verbot
Weil Frémaux’ Anweisung in den vergangenen Jahren immer wieder missachtet wurden, hat der Festivalleiter nun ein rigoroses Selfie-Verbot erlassen. Für die Formulierung einer möglichst einleuchtenden Erklärung nahm sich der Direktor auf der Pressekonferenz viel Zeit:
«Mit Selfies dauert der Gang über den roten Teppich zu lange. Das ist der erste Grund. Die erhöhte Sturzgefahr ist ein weiterer wichtiger Faktor. Zudem sieht es nicht schön aus. Und letztlich sind wir nicht in Cannes um uns selbst zu sehen. Wir sind da, um Filme zu sehen.»
Kräftemessen mit Netflix
Weitere Neuigkeiten dieses Jahr: Die neusten Produktionen des Streaming-Giganten Netflix sind heuer nicht zu sehen. Das Festival rudert in dieser Sache zurück, nachdem es im letzten Jahr Netflix-Titel wie das Fantasy-Drama «Okja» im Wettbewerb gezeigt hatte. Filme, die nach der Premiere in Cannes auf keiner mehr Leinwand liefen.
Nach dem wie erwartet grossen Aufschrei der einheimischen Kinobranche formulierte Frémaux folgende restriktive Order: «Alle Filme des Wettbewerbs müssen in französischen Kinos laufen. Ganz einfach, weil Cannes in Frankreich liegt.»
Offener Machtpoker
Wegen dieser neuen Regel sind Cannes ein paar vielversprechende Netflix-Titel entgangen. Besonders die Familienstudie «Roma» von Oscarpreisträger Alfonso Cuarón hätte Frémaux allzu gerne im Wettbewerb gezeigt.
Ausser Konkurrenz wären Netflix-Produktionen in Cannes dagegen willkommen gewesen. Doch dafür war sich der neue «Big Player» im Filmmarkt zu schade und zog sich für die diesjährige Festivalausgabe komplett zurück.
Überreaktion oder kluger Schachzug? Die Auflösung erfahren wir wohl erst nächstes Jahr, wenn das Kräftemessen zwischen Netflix und dem Festival in die dritte Runde geht.
Das Enfant terrible kehrt zurück
Punkto Aufmerksamkeit hinten anstehen muss das Rennen um die Goldene Palme aber nicht nur wegen Frémaux’ Neuerungen. Die am heissesten erwarteten Filme laufen fast alle ausserhalb des Wettbewerbs.
Zu diesen gehört Lars von Triers jüngster Regiestreich «The House That Jack Built». Die Selektion seiner Serienkiller-Studie ist keine Selbstverständlichkeit. Schliesslich wurde der dänische Skandalfilmer vor sieben Jahren wegen wirrer Äusserungen über Hitler und Juden aus Cannes verbannt.
Verjährt, nicht vergessen
Obwohl Lars von Triers Kommentare auch aus heutiger Sicht inakzeptabel sind, begnadigt ihn das Festival nun. Mit dem Hinweis, dass der Regisseur damals falsch verstanden wurde:
«Das waren alles Spässchen über Themen, über die man keine Witze reissen sollte. Doch diese unglückliche Aktion macht noch lange keinen Antisemiten aus ihm. Er ist kein Nazi, auch wenn er das im Scherz behauptet hat. Dafür wurde er bestraft. Festival-Präsident Pierre Lescure hat ihn nun im Namen der ganzen Administration als Künstler rehabilitiert.»
Noch fettere Schlagzeilen als Lars von Triers Rückkehr liefert in Cannes nur ein Thema: Die Premiere von «Solo» – Disneys stürmischer Weiterführung der Star-Wars-Saga, auch ausserhalb des Wettbewerbs.
Der grosse Rummel um die Abenteuer des jungen Han Solo bestätigen unsere These: Das künstlerische Ringen um die Goldene Palme ist in diesem Jahr nur ein Nebenschauplatz.