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75. Filmfestival Venedig Achtung, USA! Die Coen-Brüder sind bissig

Am Filmfestival Venedig wurde der neue Episoden-Film der Coen-Brüder präsentiert. Achtung, USA! Die Coen-Brüder sind bissig «The Ballad of Buster Scruggs» ist ein bitterböser Kommentar auf den Zustand in den USA.

Eine Anthologie nennen die Brüder ihren sechsteiligen Episodenfilm, der ursprünglich als Serie für Netflix geplant war.

Nun ist es ein Episodenfilm geworden mit Geschichten aus dem Wilden Westen, die Joel und Ethan Coen in ein altes Buch packen, das auf einem groben Holztisch liegt und von einer Hand umgeblättert wird.

Audio
Start der Filmfestspiele in Venedig
aus Kultur-Aktualität vom 30.08.2018.
abspielen. Laufzeit 4 Minuten 2 Sekunden.

Aber natürlich ist das Buch nicht wirklich alt, die Coens haben ihre Geschichten selber geschrieben und wie immer ironisch, humorvoll, bitterböse und mit einer ordentlichen Portion Gewalt.

Scheitern ist Programm

Was auf den ersten Blick als eine lose Zusammenstellung von Wildwest-Stereotypen anmutet, ist ein beissender Kommentar auf den Zustand der USA. Alle Figuren in «The Ballad of Buster Scruggs» haben grosse Ideen. Alle scheitern irgendwie daran.

In einer Wildwest-Anthologie von Joel und Ethan Coen heisst scheitern meistens sterben. Mit einer Kugel in der Stirn, mit einem Strick um den Hals – oder ertrunken in einem Fluss.

Lustvoll inszeniert

Die erste Episode ist jene Ballade des Buster Scruggs (der wunderbare Tim Blake Nelson), der Gitarre spielend und singend durch den Westen reitet und der schneller zieht als alle. Bis ein anderer, der auch gut singen kann, noch schneller zieht. Und während Buster Scruggs als Harfe spielender Engel in den Himmel fliegt, singen die beiden noch ein Duett.

Es ist die Episode zum Aufwärmen sozusagen, voller witzigen Regieeinfälle (einmal filmt die Kamera aus dem Innern der Gitarre raus), voller lustvoll inszenierter Gewaltchoreographien.

Episoden mit leidvollem Ende

Es folgen die Geschichte eines Bankräubers (James Franco), der an einen zu wehrhaften Bankier gerät und an einem Baum aufgehängt werden soll, die Episode mit dem Goldsucher (Tom Waits) im wunderbar kitschigen Bergtal, der beinahe um sein Glück gebracht wird.

Dann das Schicksal einer Siedlerin (Zoe Kazan) mit einem sehr nervtötenden Hündchen, die in dem Treckführer ihre Liebe findet, das Schicksal leider aber auch hier nicht gut ist.

Die Coen-Brüder in Schale.
Legende: Western mit Witz und Biss: Die Coens präsentierten ihren neusten Streich in Venedig. Keystone

Kritik an den USA

Am Beklemmensten aber ist die Episode eines Schaustellers (Liam Neeson), der mit einem arm- und beinlosen Briten durch die Lande zieht und diesen einen langen Monolog halten lässt.

Am Ende steht der berühmte letzte Satz von Lincolns Gettysburg-Rede «…and that government of the people, by the people, for the people, shall not perish from the earth.» (…und dass diese Regierung des Volkes, durch das Volk, für das Volk, niemals von der Erde verschwinden möge.)

Grossartig ist sein Auftritt, die Coens schneiden ihn immer und immer wieder zusammen, kombinieren Ausschnitte neu, wiederholen Passagen mehrmals, immer wieder vor allem diesen letzten Satz der Lincoln-Rede.

Aber es kommen leider immer weniger Leute zum Zuschauen und so erwirbt der Schausteller schliesslich ein kopfrechnendes Huhn und lässt den arm- und beinlosen «perish from the earth» verschwinden. Einen böseren Kommentar über den Zustand der USA hat es noch nicht im Kino gegeben.

Die Coens lassen sich Zeit

Sie hätten schon lange eine Anthologie drehen wollen, sagen Joel und Ethan Coen selber über diesen Film. Im Unterschied zu den langen Filmen können sich die Brüder hier in den rund 20-minütigen Episoden nicht so lange Zeit nehmen für den Aufbau eines Spannungsbogens, wie sie das sonst so meisterhaft tun.

Zeit aber lassen sie sich auch in diesen kurzen Vignetten: wenn zum Beispiel minutenlang nichts anderes geschieht, als dass der Goldgräber ein Loch neben dem anderen gräbt und immer wieder die Goldpfanne ausschwenkt. Loch graben, Goldpfanne ausschwenken, Loch graben … Das ist grossartig, vor allem, wenn Tom Waits dazu vor sich hin grummelt und singt.

Carter Burwells Soundtrack passt hervorragend zu diesen sechs Episoden – deren letzte eigentlich ein Epilog und ein Kommentar ist: Fünf Figuren sitzen in einer Kutsche, ein wilder Trapper, eine bigotte Dame, ein Spieler und zwei Kopfgeldjäger – auf dem Dach noch ihre Leiche.

Am Ende, mitten in der Nacht steigen sie alle in einem Hotel im Nirgendwo ab, der Kutscher jagt mit der Kutsche wieder davon. Und das Hotel sieht aus, als würde Norman Bates aus Hitchcocks «Psycho» hinter der Rezeption sitzen. Gute Nacht, USA.

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