Brasilien ist ohne Zweifel eine Fernsehnation. Im Schnitt verbringt ein Brasilianer dreieinhalb Stunden pro Tag vor dem Fernseher. Die grossen brasilianischen Produktionen gehören in ganz Lateinamerika zum abendlichen Pflichtprogramm.
Mit diesen Telenovelas, die meist mehr als 200 Folgen haben und eine dramatische Version des Alltags abbilden, hat Brasiliens erste Netflix-Serie «3%» allerdings wenig gemeinsam.
Eine Prüfung entscheidet über die Zukunft
«3%» ist eine Science-Fiction-Serie, angesiedelt in einer nicht allzu fernen Zukunft. Brasilien hat sich in zwei hermetisch voneinander abgetrennte Welten gespalten: das Festland, eine einzige gewaltige Favela, und die sogenannte Insel. Ein utopisches Paradies, in dem jeder Mensch gleich viel gilt.
Mit 20 Jahren bekommt jeder die Chance, dorthin umzusiedeln. Die einzige Hürde ist der sogenannte «Prozess». Ein sorgfältig kalibriertes System, das die Spreu vom Weizen trennen soll. Nur die Intelligentesten, Aufrechtesten, Charakterstärksten – im Schnitt drei Prozent der Bevölkerung – sind auf der Insel willkommen.
Der «Prozess» besteht aus einer Reihe unterschiedlicher Tests. Einige könnten aus einer Reality-Show oder einem Assessment-Center stammen. Andere erinnern dagegen an das Stanford Gefängnis-Experiment – jenen berühmten Test, der abgebrochen werden musste, weil die Probanden einander in «Herr der Fliegen»-Manier an die Kehle gingen.
Nur auf den ersten Blick Young Adult
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Dystopien, in denen Teenager Prüfungen zu bestehen haben, sind derzeit en vogue: Vor knappe zehn Jahren erschien die Romanserie «Die Tribute von Panem» und hat eine SciFi-Lawine losgetrete.
Seitdem haben sich in Geschichten wie der «Maze-Runner»-Trilogie, der «Bestimmung»-Reihe und der Serie «The 100» zahllose Jugendliche im Zweikampf erprobt, durch Labyrinthe gekämpft und unweigerlich verliebt.
Auch «3%» spielt mit genau diesen Elementen, und doch bleibt die Gemeinsamkeit zum «Young Adult»-Genre an der Oberfläche. Denn statt den Zuschauer nahe an die Hauptfiguren heranzubringen und die Handlung unerbittlich voranzutreiben, hält uns «3%» emotional auf Distanz und bringt den Plot manchmal fast zum Stillstand.
Visuelle Atempausen
Hinter der Kamera steht César Charlone. Der zählt seit dem kantigen Bandendrama «City of God» zu den interessantesten Kameramännern der heutigen Filmlandschaft. Als Regisseur drückt er «3%» einen unverwechselbaren Stempel auf.
Aus den Sets, grösstenteils weissen, sterilen Räumen, schlägt er Kapital. Anhand harter Kontraste, kontrollierten Unschärfen und kreativ genutzem Negativraum bleibt die Optik interessant. Gleichzeitig finden die erzählerischen Atempausen in seinen Bildern eine visuelle Entsprechung.
Dystopie oder Utopie?
Diese Zwischenräume nutzt die Serie, um unbequeme ethische Fragen zu stellen. Vor allem eine: Ist «3%» überhaupt eine Dystopie? Für die meisten Mitteleuropäer, gerade solche aus der gehobenen Mittelschicht, wäre ein Ritual, das Menschen wie selbstverständlich in zwei Kategorien teilt, unvorstellbar. Geradezu menschenverachtend.
Brasilien ist allerdings ein Land, in dem die Schere zwischen Arm und Reich aussergewöhnlich weit auseinanderklafft. Wer weiss also, wie ein Zwanzigjähriger aus den Favelas Sao Paulos den «Prozess» bewerten würde – vorausgesetzt er hätte die Möglichkeit, Netflix zu empfangen.