Sage noch jemand, Dokumentarfilme seien nicht sexy. Die glitzernde Blondine, die den Kopf zum zärtlichen Kuss nach hinten beugt, bis die Schnauzhaare eines Tigers ihre geschürzten Lippen berühren, erzeugt von der Kinoleinwand her ein Kribbeln.«Wild Women – Gentle Beasts» heisst Anka Schmids Porträt einer Handvoll Tierdompteurinnen.
Am Festival in Nyon wurde es uraufgeführt und hielt einen prächtig bei Laune. Es ist Fenster in eine von Träumen und Sehnsüchten und leisen Schauern besetzte Welt, die den meisten von uns fern ist. Diese Welt von nahe beobachten, subjektiv zu erleben: Film kann so viel! Dokumentarfilm nicht weniger als Fiktion, das will das Label Visions du Réel auch bekräftigen.
Mitten in die Welt und bis an die Ränder
Mit wachsendem Publikumszuspruch stand Nyon mit seinen Wettbewerben und der Branchenplattform Doc Outlook Market im Zeichen des internationalen Dokumentarfilms. Am 23. April wurden die Gewinnerinnen und Gewinner der 117 Filme in diversen Wettbewerben bekanntgegeben. 3700 Filme aus aller Welt seien visioniert worden, meldet die Direktion unter der Leitung von Luciano Barisone nicht ohne Stolz.
Der 66-jährige Genuese ist nach wie vor nicht der joviale Wirt, der sein Publikum bei Laune hält. In seinem fünften Festivaljahr führte er uns mitten in die Welt und bis an die Ränder der Erdplatte. Dieses Jahr erfolgreicher als auch schon – mit Mut, Konsequenz und poetischem Gespür, sich platten Bildern zu verweigern. Allein in der Wettbewerbskategorie der langen Filme bleiben starke Eindrücke.
Besuch von Ausserirdischen
Fast paradigmatisch für diese Art von Forschungsreisen zur menschlichen Existenz steht die europäische Koproduktion «The Visit», in der als visuell spielerische Inszenierung dokumentiert wird, was (noch) gar nicht stattgefunden hat: ausserirdischer Besuch auf unserem Planeten.
Tausend Fragen stellen sich: Wer sind wir denn eigentlich? Wie stellen wir uns dar? Womit und womit lieber nicht? Wie erklären wir uns? Dem Film von Michael Madsen gelingt es in einem eigenwilligen visuellen Setting, uns den Boden von den Füssen zu ziehen, auf dem wir uns so unbekümmert ein Menschenleben lang tummeln. Sehr animiert und nachdenklich verlässt man das Kino.
Ein Chor mit Menschen aus aller Welt
Die Sinne schärfen, Auge und Ohr nach innen richten, um sich so der eigenen Wahrnehmung selber bewusst zu werden: Das ist Stefan Schwietert wieder besonders schön gelungen. Der Schweizer Wettbewerbsbeitrag «Imagine Waking Up Tomorrow and All Music Has Disappeared» verfolgt das Projekt der charismatischen schottischen Pop-Legende Bill Drummond, der Menschen von der Strasse und Menschen, die am Computer in Fabrikhallen arbeiten, zu einem weltweiten Chor vereinen will.
Was als spleeniger Gag beginnt, vertieft sich zu einer wundersamen Odyssee hin zur Kraft der Musik. Wie der Film auf eine kreative Frustration des Publikums mit anschliessender Befreiung interaktiv hinsteuert, ist ein Clou – eine «vision du réel» vom Feinsten.
Auseinandersetzung mit dem Krieg
Beiträge zum Thema
Dieses Jahr in Nyon aufgefallen ist erneut das Bemühen junger Filmemacher, sich der kriegerischen Gegenwart und namentlich auch der Geschichte zu stellen, diese sich neu anzueignen: filmisch etwas unbedarft im Kambodscha der Roten Khmer («Retour sur une illusion» von Elena Hazanov und Claudio Recupero), akribisch allein mit existierendem Filmmaterial im Deutschland des sich radikalisierenden RAF-Terrors («Une jeunesse allemande» von Jean-Gabriel Périot), gruselig im nationalistischen Sumpf des Ungarn Viktor Orbán («The Érpatak Model» von Benny Brunner) oder in einem gespenstischen Tschetschenien, wo Putins Statthalter Ramsan Kadyrow das Szepter führt («Grozny Blues» von Nicola Bellucci).