Julia ist sehr jung, doch sie hat schon viel miterleben müssen: Einst lebte sie auf der Strasse, die Eltern waren Junkies. Der neue Stiefvater ist zwar clean, steht dafür einer obskuren Glaubensgemeinschaft nahe. Und dann wird plötzlich ihre ältere Schwester nahe Luzern in einem Wald gefunden – erschlagen. Das ist die Ausgangslage des neusten Falls der Schweizer Tatort-Kommissare Reto Flückiger und Liz Ritschard. Gespielt wird Julia von der neun-jährigen Anouk Petri.
Die geeignete Darstellerin für diese Rolle hat Corinna Glaus gefunden. Sie ist Casterin und sucht seit über zehn Jahren Darsteller für Schweizer TV- und Kinoproduktionen. Sie ist Spezialistin für Jungschauspieler und hat Talente wie Joel Basman oder Max Hubacher entdeckt. Oft arbeitet sie mit Kindern und Jugendlichen, die keinerlei Erfahrung vor der Kamera haben. Sie weiss, was ein Kind mitbringen muss, um auf dem Fernsehschirm oder der Kinoleinwand zu überzeugen: «Am wichtigsten sind Spass am Schauspiel und die Unterstützung der Eltern.»
Merken, wie die Kinder ticken
Wenn Glaus über das Casting von Kindern spricht, redet sie oft vom «Auf-» und «Zumachen». Fühlt sich ein Kind nicht wohl vor der Kamera, macht es «zu». Und dann geht nichts mehr. Eine wichtige Aufgabe der Casterin – und später auch des Regisseurs – ist es, eine Atmosphäre zu schaffen, in der das Kind sich wohlfühlt. Denn dann hat es Spass am Spielen und «macht auf». Glaus‘ Arbeit beginnt deshalb damit, die jungen Kandidatinnen und Kandidaten, die vom Typ her zur Rolle passen, genauer kennenzulernen. Zu merken, wie sie ticken. Ob sie Spass daran haben, vor einer Kamera zu stehen. Dazu gibt sie den Kindern eine bestimmte Situation vor und lässt sie improvisieren.
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«Kinder spielen ja auch sonst gerne andere Rollen – im Kindergarten oder in der Schule. Sie können mit wenigen Mitteln ganze Welten kreieren», sagt Glaus. Mit den Kindern sucht sie eine Situation aus dem eigenen Erfahrungsschatz, die eine ähnliche Emotion trifft, wie sie die jeweilige Rolle erfordert. Statt an den Mord der Schwester sollen die Kinder dann eben an ein entlaufenes Meerschweinchen denken. Bei Figuren in schwierigen Situationen, wie Julia im Tatort «Geburtstagskind», werden die Jungschauspieler meist nicht mit allen Aspekten ihrer Rolle konfrontiert. Zudem werden Kinder am Set auch zusätzlich betreut.
Die Eltern werden mitgecastet
Sich in andere Rollen versetzen können Kinder unterschiedlich gut, weil sie es unterschiedlich gerne machen. Das ist aber die Grundvoraussetzung, dass ein Kind eine gute schauspielerische Leistung liefern kann: «Wenn das Kind keine Freude am Schauspiel hat, geht es nicht», sagt Glaus. Das sagt sie auch jenen Eltern, die ihren Kindern eine Schauspielkarriere aufzwingen wollen, was immer wieder vorkomme. Bei sehr jungen Schauspielern werden deshalb die Eltern quasi mitgecastet: Kinder müssen selbst mitmachen wollen und zugleich von ihren Eltern Unterstützung erhalten – sonst werden die Dreharbeiten zu konfliktreich.
Anouk Petri hatte selbst den Wunsch, zu schauspielern. Kein Wunder – schliesslich kennt sie den Beruf aus nächster Nähe. Sie ist die Tochter der Schauspielerin Mona Petri und die Ur-Enkelin von Anne-Marie Blanc. Das Aufwachsen in einer solchen Schauspielerfamilie sei ein Vorteil, sagt Glaus. Denn Kinder von Schauspielern haben eine konkrete Vorstellung davon, was sie am Set erwartet, weil sie meistens schon bei Dreharbeiten dabei waren. Dadurch sind sie weniger ängstlich und schon die Situation beim Casting wird entspannter. Im Vergleich zu anderen Eltern kann eine erfahrene Schauspielerin wie Mona Petri zudem besser abschätzen, was ihrer Tochter zugemutet werden kann.
Ungewisser Karriere-Verlauf
Wie es nun weitergeht mit dem jüngsten Talent aus der Blanc-Familie, kann Glaus aber nicht voraussagen. Anouk habe sichtlich Spass am Drehen und bringe die besten Voraussetzungen mit, Schauspielerin zu werden. Nach dem «Tatort»-Dreh war sie auch bereits bei weiteren Projekten dabei.
Doch nicht alle talentierten Jungschauspieler üben diesen Beruf dann auch im Erwachsenenalter aus. Dass einige von Glaus' Entdeckungen sich schliesslich gegen die Schauspielerei entscheiden, kann die Casterin verstehen: «Es ist sehr schwierig, einen Punkt zu erreichen, an dem man von der Schauspielerei leben und regelmässig spannende Rollen spielen kann. Umso mehr bewundere ich jene, die sich trotzdem durchbeissen.»