Seit Gianfranco Rosi für seinen Dokumentarfilm «Sacro GRA» den goldenen Löwen von Venedig gewann, kennt man die sorgfältig inszenatorisch-beobachtende Methode des italienischen Regisseurs. Sein Film über die gigantische Ringstrasse um Rom setzte auf eine anthropologisch anmutende, stille Beobachtung von Menschen und ihren Umständen. Und auf suggestive Montagen.
Weder abschätzig noch abwehrend
«Fuocoammare» nutzt fast die gleiche Methode. Anderthalb Jahre hat Rosi auf der italienischen Insel Lampedusa gelebt und gefilmt. Ihn interessierte die Beziehung der Inselbewohner zu den Tausenden von Flüchtlingen, die über die Jahre immer zahlreicher versuchten, Lampedusa von Afrika aus zu erreichen. Rosi ergründete das Lebensgefühl der Insulaner, die sich – anders als das restliche Europa – kaum je abschätzig oder abwehrend verhalten. Er fragte sich, warum dem so ist.
Eine Antwort gab ihm der Inselarzt, einer der Protagonisten in seinem Film: Lampedusa sei bevölkert von Fischern, und Fischer würden immer alles akzeptieren, was vom Meer her komme – und vielleicht sei es genau das, was die Welt von Lampedusa lernen könne.
Leichenberge im Schiffsbauch
Dass solche Sätze im Film selbst nicht fallen, gehört zu dessen grossen Stärken. Der Arzt erzählt aber freimütig von seinen Einsätzen: Wie hart es sei, wenn im Bauch eines Schiffswracks Dutzende von Leichen liegen; wenn er chemische Brandwunden behandeln müsse, die entstehen, wenn Treibstoff sich mit Meerwasser mischt und die Flüchtlinge tagelang in dieser Brühe ausharren müssen.
Rosi begleitete das Rettungsschiff und den Helikopter zu Einsätzen, die schreckliche Szenen zu Tage förderten. Er hat alles selbst gefilmt, ohne Crew. Dabei kam er einem seiner Protagonisten besonders nahe: Der Schuljunge Samuele Pucillo steht für die Insel und ihre Unvoreingenommenheit.
Aus der Perspektive eines Kind
Samuele streift auf der Insel herum, übt mit der Steinschleuder und ahmt mit den Armen halbautomatische Schusswaffen nach. Mit einem Fischer geht Samuele aufs Boot, es könnte sein Onkel sein oder sein Vater, und muss sich übergeben.
Der Mann rät ihm beim Abendessen, sich hin und wieder auf den hölzernen Pier zu stellen und sich langsam an die Bewegungen des Meeres zu gewöhnen.
Wenige Bilder von Flüchtlingsschiffen
Die symbolischen Beziehungen ergeben sich ganz von selbst in diesem Film. Die Aufnahmen sind dokumentarisch. Sie ergeben sich aus dem Alltag der Protagonisten, wobei manche Szenen ganz klar inszeniert sind.
Die wenigen Bilder von Flüchtlingsschiffen, von Geretteten und von Toten, von einem Verprügelten, der offenbar die anderen Flüchtlinge gegen sich aufgebrachte, von einem Fussballspiel im Auffanglager – sie alle wirken um so stärker, weil sie im Film beiläufig eingestreut sind.
Ruhige Betrachtung
«Fuocoammare» ist nicht larmoyant, kein lauter Aufruf, keine Anklage, sondern einfach eine ruhige Betrachtung dessen, was ist. Allenfalls führen die symbolträchtigeren Momente in der Montage dazu, dass man als Zuschauer der Illusion verfällt, da nehme einfach die Natur und das Leben seinen Lauf.
Aber eigentlich ist gerade diese Ruhe eine der grossen Stärken dieses Films. Rosis Methode der Beobachtung, der sorgfältigen Nachinszenierung und der leisen, bezugsschaffenden Montage könnte fast überall und zu fast jedem Thema funktionieren. Und sie ist das pure Gegenteil all dessen, was uns im News-Alltag abstumpft, erschreckt und gefühllos macht.
Kinostart: 1. September 2016