Nach seinem international renommierten Tagebuchfilm «Day Is Done» aus dem Jahr 2011 habe er eigentlich gedacht, er sei geheilt davon, aus dem Wohnungsfenster filmen zu müssen, sagt Thomas Imbach.
Doch dann erfuhr er: Der alte Zürcher Güterbahnhof aus dem 19. Jahrhundert – direkt unter seinem Fenster gelegen – wird allen politischen Widerständen zum Trotz doch abgerissen.
Das war 2013, und Thomas Imbach holte seine Kamera wieder aus dem Schrank.
Wie eifrige Spielzeugautos
Über sieben Jahre hinweg hat Imbach aus seinem Wohnungsfenster gefilmt. Sporadisch, je nachdem, was sich gerade tat auf dem Gelände. Mit nur wenigen Bildern pro Sekunde hat er ganz klassisch analoges Filmmaterial belichtet.
Diese Zeitraffer-Sequenzen sind fantastisch. Mit knackiger Schärfe und extremer Detailtreue sehen wir die Bagger auffahren. Dank ihrem hochgedrehten Speed wirken sie wie eifrige Spielzeugautos in einem Modellgelände.
Die gnadenlos zubeissenden Kiefer der Abrissmaschinen, die grosse Stücke aus den Wänden und Dächern der alten Backsteingebäude reissen, erinnern an Zerstörungsmonster wie Godzilla.
Cartooneske Komik
Zusammen mit Sounddesigner Peter Bräker hat Imbach die Bilder mit einer Tonspur unterlegt, die bisweilen urkomisch wirkt. Mit den unverständlichen Stimmen und verfremdeten Geräuschkulissen kommt manchmal fast Cartoon-Stimmung auf.
Bräker und er seien beide grosse Fans von Jacques Tati, sagt Thomas Imbach. An dessen Kino-Klassiker mit dem schlaksigen Monsieur Hulot erinnern denn auch mehr als eine der Abriss- und der späteren Bausequenzen.
Zwischen persönlich und politisch
Auf dem Gelände des alten Güterbahnhofes entsteht ein hochmoderner Zürcher Polizeikomplex mit Untersuchungsgefängnis. Und darum kommt neben der witzigen Gestaltung der Bild- und Tonebene auch eine beeindruckende Ernsthaftigkeit auf.
Einerseits erinnert sich Thomas Imbach angesichts des Verlustes an klassischer Bausubstanz vor seinem Fenster an persönliche Abschiede, etwa von seinem Grossvater, oder dem 2014 verstorbenen Filmemacherfreund Peter Liechti.
Andererseits verwebt der Kommentar die Erzählungen von abgewiesenen Asylbewerbern in Ausschaffungshaft, die Imbachs Assistentin Lisa Gerig interviewt hat.
Sieben Jahre, drei Phasen
«Nemesis» deckt über sieben Jahre hinweg drei Phasen ab. Den Abriss des alten Güterbahnhofs, die lange Zeit der planierten und bewachten Brache, und schliesslich den Bau des neuen Polizeizentrums, während dem noch einmal die ganze technische Faszination der Vorgänge im Zeitraffer für grossartige Bilder sorgt.
Thomas Imbach ist einmal mehr ein gleichzeitig persönlicher und universeller Dokumentarfilm gelungen, der gesellschaftliche Fragen nach Stadtentwicklung, zum Umgang mit anderen Menschen und mit individueller Verantwortung zu einem attraktiven Bild- und Tonstrom verbindet.
Kinostart: 27.05.2021