Der 17-jährige Amir ist frustriert. Obwohl er sich freundlich verhält und seine Muskeln trainiert, hat er schlechte Karten, eine Freundin zu finden.
«Mädchen hier haben ein schlechtes Bild von Geflüchteten, besonders von Afghanen», erklärt er im Film. Danach lässt er seiner Verzweiflung über die gefühlte Ablehnung freien Lauf: «Ich weiss nicht, warum sie so fühlen, warum sie Angst haben. Wir sind ja auch nur Menschen.»
Amir ist nicht der einzige junge Mann aus Afghanistan, auf den sich Maja Tschumis Doku konzentriert. Das Publikum lernt auch den nicht minder sportlichen Teenager Habibi kennen, der als Bergläufer die Herzen der Einheimischen zu gewinnen versucht. Plus zwei Männer, die bei ihrer Flucht schon über 20 waren: Mahir aus der Türkei und Issac aus Eritrea.
Verloren im Rotzloch
Alle vier leben – isoliert vom Rest der Bevölkerung – in einem schmucklosen Nidwaldner Asylzentrum, das Issac so beschreibt: «Im Rotzloch wohnen ungefähr 50 Männer, keine Frauen. Bevor es ein Asylzentrum wurde, gehörte es zur Zementfabrik.»
«Rotzloch» ist übrigens kein Schimpfwort, so heisst der Ort, in dem Issac, Mahir, Habibi und Amir untergebracht sind wirklich. Durchaus idyllisch gelegen, entspricht das abgeschottete Auffangbecken dennoch kaum dem, was sich die Geflüchteten erhofft haben. «Wenn man in Europa ankommt, erwartet man nicht so etwas wie das Rotzloch», meint Issac dazu.
«Für mich ist Rotzloch ein Friedhof der Lebenden», präzisiert einer seiner Leidensgenossen. Wie Zombies fühlen sich die Geflüchteten vor allem, weil sich viele Schweizerinnen vor ihnen fürchten: «Alle denken, dass wir Terroristen oder sexuell gewalttätig seien. Dass wir gekommen sind, um das Land zu ruinieren und zu vergewaltigen.»
Raffiniert inszenierte Enge
Tschumis preiswürdige Dokumentation verzichtet – ähnlich wie ihre Protagonisten – auf vieles: auf die Strahlkraft von Panoramabildern zum Beispiel oder eine einordnende Erzählstimme.
Statt die Breite der Leinwand auszureizen, transportiert die 4:3-Cadrage das, was die Figuren empfinden: Enge, die – unterstützt von der unheimlichen Tonspur – bisweilen gar ins Albtraumhafte kippt. Diese durch atmosphärische Aufnahmen vermittelte Stimmung dürfte mehr bewirken, als es ein belehrender Kommentar je tun könnte.
Haltung beweist Tschumi, indem sie die Alltagsprobleme ihrer Protagonisten schildert, die gerne mehr lernen, arbeiten und reisen würden. «Das System lässt dich allein», hält Mahir mit Blick auf seine gescheiterten Bemühungen fest. Nur etwas glaubt der Desillusionierte gelernt zu haben: «Als Geflüchteter bist du ein Bürger zweiter Klasse.»
Nicht nur Schweizer haben Hemmungen
Doch zurück zum erzählerischen Fokus, dem Herzstück von «Rotzloch»: Im Zentrum der Doku mit Spielfilmlänge steht das meist vergebliche Streben der porträtierten Männer nach Liebe, Sex und Zärtlichkeit.
«Wenn mir eine Frau gefällt, setze ich mich sofort neben sie», erzählt Mahir. Doch die Annäherungsversuche des attraktiven, aber leicht verunsicherbaren Türken werden überwiegend im Keim erstickt: «Du siehst ihre Mimik, ihre Blicke, ihre Gesten und du verstehst, dass sie keine Ausländer mag. Wenn mich jemand nicht will, dann will ich auch nicht.»
Mahir inspirierte die Regisseurin mit seinem traurigen Fazit auch zum poetischen Untertitel des Films: «Du kannst niemanden zwingen, dich zu umarmen.»
Kinostart: 1.12.2022