«Um ein menschliches Leben führen zu können, ist mir nichts wichtiger, als mich ausdrücken zu können.» Das sagt der Japaner Naoki Higashida. Doch für ihn ist es keine Selbstverständlichkeit, sich ausdrücken zu können. Naoki Higashida ist auf dem Autismus-Spektrum und spricht nicht.
Dabei kennt er Sprache. Die Wörter gehen ihm jedoch auf dem Weg zum Mund verloren, sagt er. Der heute 29-Jährige drückt sich deshalb anders aus. Auf einer Alphabet-Tafel deutet er auf die einzelnen Felder und buchstabiert so Wörter und Sätze. Oder er schreibt seine Gedanken und Gefühle nieder.
Buch als Augenöffner
Als 13-Jähriger verfasste er die Biografie «The Reason I Jump» (deutscher Titel: «Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann»). Darin erzählt er, wie er seine Umwelt und sich selbst wahrnimmt.
Für viele neurotypische Menschen, also Menschen ohne Autismus, war dieses Buch ein Augenöffner. Vor allem Eltern mit Kindern auf dem Autismus-Spektrum bekamen eine Möglichkeit, ihre Kinder besser zu verstehen.
So ging es unter anderem auch dem Produzenten Jeremy Dear. Für ihn ist dieses Buch so wichtig, dass er gemeinsam mit anderen einen Film dazu produzieren wollten.
Fehleinschätzung des Denkvermögens
Sie beauftragten Regisseur Jerry Rothwell mit der Umsetzung. «Der Umgang der Gesellschaft mit nonverbalen Autisten hat mich immer schon gestört», sagt er. «Durch Kategorien wie ‹nicht funktionstüchtig› werden diese Menschen nicht nur ständig unterschätzt. Diese Urteile führen auch zu einer Fehleinschätzung ihres Denkvermögens und ihrer Auffassungsgabe.»
Buchautor Naoki Higashida wollte selbst nicht vor die Kamera. Im Dokumentarfilm «The Reason I Jump» wird deshalb nicht er begleitet. Sondern fünf junge Menschen auf dem Autismus-Spektrum und ihre Familien. Die Porträtierten kommen aus Indien, Sierra Leone, England und den USA.
«Naoki sagt, er beziehe sich in seinem Buch primär auf sich selbst, nicht auf die Gesamtheit aller autistischen Menschen», sagt Regisseur Jerry Rothwell. Er hat Naoki Higashida persönlich getroffen. «Seine Worte geben dennoch den Anstoss dazu, die Dinge, die wir auf der Leinwand sehen, aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.»
Eigene Wohnung, eigene Kunst-Ausstellung
Das Buch dient als Grundlage, immer wieder sind Zitate daraus zu hören. Doch der Film lässt den Protagonistinnen und Protagonisten genug Raum. Emma und Ben, die seit ihrer Kindheit beste Freunde sind und bald in ihre erste Wohnung ziehen.
Amrit, die sich durch ihre Bilder ausdrückt und eine Ausstellung ihrer Werke kuratiert.
Joss, der Sohn von Produzent Jeremy Dear, der am liebsten auf dem Trampolin springt und sein Umfeld mit seiner Freude am Alltäglichen daran erinnert, im Hier und Jetzt zu leben.
Jestina, die ihre Eltern dazu inspiriert hat, eine Schule für Kinder auf dem Autismus-Spektrum zu gründen. Für viele die Rettung in Sierra Leone, wo autistische Menschen oft als vom Teufel besessen angesehen werden.
Beratung von Menschen mit Autismus
Der Film ist sinnlich, feinfühlig, berührend, interessant. Er führt niemanden vor, weder die jungen Menschen auf dem Autismus-Spektrum noch ihr Umfeld. Dazu beigetragen hat sicher auch, dass Menschen mit Autismus im Filmteam vertreten und an der Umsetzung beteiligt waren.
«Ich hoffe, dass der Film dazu beiträgt, unsere Vorstellung von nonverbalen Autisten zu verändern», sagt Regisseur Jerry Rothwell. «Weg von allzu simplen und schädigenden Kategorien und hin zu einem Verständnis der Stärken und Herausforderungen, mit denen sich alle Menschen konfrontiert sehen.»