«Bis Montag schlaf ich nicht. Dann bin ich vier Tage voraus und mir gehört die Welt.» Dino Brandão hat eine Zigarette in der Hand und lächelt. Seit ein paar Tagen steckt er in einer manischen Phase.
«Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass du in die Klinik kommst und es eskaliert wie beim letzten Mal?», fragt ihn Moris Freiburghaus, ein enger Freund. «Null Prozent.» Dino Brandão ist sich sicher: Er hat alles im Griff.
Menschen mit bipolarer Störung pendeln zwischen den Extremen. In depressiven Phasen fallen sie in ein tiefes Loch. In manischen Phasen sind sie tatendurstig, impulsiv, mitunter grössenwahnsinnig.
Die Doku «I love you, I leave you» zeigt, wie Brandão immer weiter in den manischen Strudel gerät. Mal ist er auf Wolke 7: «Es ist so verdammt schön.» Mal meint er, alle würden sich gegen ihn verbünden. Er wirkt enthemmt, redet wirr, randaliert. Schliesslich wird er in die Klinik zwangseingewiesen.
Freundschaft im Ausnahmezustand
«In diesen Phasen fühle ich mich, als wäre ich im Film», erzählt er im Interview. Dieses Gefühl wollte er festhalten – in einem Film. Er wandte sich an Regisseur Moris Freiburghaus. Die beiden sind seit 20 Jahren befreundet. «Wir haben uns schon als Teenager beim Skaten gefilmt.»
Freiburghaus hatte Zweifel. «Den psychotischen Freund filmen und eine Doku daraus machen – ich war nicht sicher, wie das ankommt.» Eine Gratwanderung: Zwischen Nähe und Blossstellung liegt nur ein falscher Schritt.
Freiburghaus begegnet diesem Risiko, indem er auch sich selbst dokumentiert. Als Freund begleitet er Dino Brandão während der manischen Phase eng und muss schwierige Entscheidungen treffen. Als Brandão aus der Klinik ausbricht, sucht die Polizei ihn.
Freiburghaus weiss, wo er ist. Und hadert: Verrät er ihn, wenn er die Polizei informiert? Oder muss er den psychotischen Freund vor sich selbst schützen? «Bis heute weiss ich nicht, ob ich in gewissen Situationen richtig gehandelt habe», sagt er.
«Kein Schwarz-Weiss-Ding»
Die Doku zeigt, wie zehrend die Krankheit für die Angehörigen ist. Sie sorgen und kümmern sich. Und kommen dabei an ihre Grenzen. «Ich bin sehr dankbar für die Menschen in meinem Leben. Ohne sie hätte ich das nicht überlebt», sagt Brandão.
Über seine bipolare Störung hat er durch den Film einiges gelernt. «Es ist kein Schwarz-Weiss-Ding, sondern ein Spektrum an verschiedenen Stimmungen.»
Einige Szenen hat er selbst gefilmt und so seine Perspektive eingefangen. Die Kamera wackelt, ist manchmal schief, zoomt dann plötzlich auf ein scheinbar willkürliches Detail – so sprunghaft wie er selbst in seiner manischen Phase.
Moris Freiburghaus und sein Team begleiten Brandão einfühlsam und mit schlichten filmischen Mitteln. Musik gibt es überraschend wenig. «Ich möchte die Emotionen nicht zu sehr lenken», sagt Freiburghaus. Brandaos Musik habe er gut dosieren müssen: «Sie ist sehr kräftig, wie das Filmmaterial.»
Niemals voyeuristisch
Die Doku kommt Dino Brandão sehr nah. Das ist eindrucksvoll und bewegend. Manchmal tut es auch weh. Voyeuristisch wird es nie, keine Spur von dramatischer Inszenierung. Moris Freiburghaus glückt die Gratwanderung.
Am ZFF hat er das Goldene Auge im Dokfilm-Wettbewerb gewonnen. «Megaschön», sagt er und freut sich über die grosse Aufmerksamkeit – für seinen Film und vor allem für das Thema psychische Gesundheit: «Viele schauen weg. Dabei geht es alle etwas an.»
Filmstart: 6. November.