Auch mit 76 wirkt Werner Herzog so wach und begeistert wie eh und je. Eine Spur bedächtiger wirkt allenfalls sein Sprechtempo – etwa wenn er die Frage beantwortet, wie weit er bei seinen Filmen überhaupt noch unterscheide zwischen Dokumentarfilm und Spielfilm.
Er habe seine Zweifel, sagt Herzog. Die Grenze habe sich immer mehr verwischt. Wenn auch nicht in allen Fällen: «Einer meiner neuesten Filme, ‹Meeting Gorbatschow›, muss natürlich an politischen und historischen Ereignissen orientiert bleiben.»
Er mache aber auch bei Dokumentarfilmen Dinge, die man eigentlich nur im Spielfilm macht. Beispielsweise suche er sich seine Darsteller aus und mache ein Casting.
Wie erzählt man wahre Geschichten?
Was das heisst, zeigt sich bei «Little Dieter Wants to Fly» – Werner Herzogs Dokumentarfilm über Dieter Dengler, der als kleiner Junge im Schwarzwald nach den Fliegerangriffen der Aliierten beschloss, Pilot zu werden.
Und Dengler wurde Pilot. Bomberpilot. Er wanderte nach dem Krieg in die USA aus, diente sich bis zu den Marines durch, wurde in Vietnam abgeschossen – und schaffte nach Monaten der Folter die Flucht durch den Dschungel.
Denglers Erzählung, wie sein Freund und Fluchtkollege Duane neben ihm von einem Dorfbewohner geköpft wurde, ist zentral im Film. Kurz, präzise und erschütternd erzählt. Allerdings nicht auf Anhieb, wie sich Werner Herzog erinnert.
«Ich glaube, diese Szene habe ich vier oder fünf Mal gedreht», erzählt er. Das mache man sonst eigentlich nur im Spielfilm. Ein Regisseur müsse sich die Frage stellen, wie er eine so dramatische Geschichte lebendig halten könne, und vielleicht auch manchmal «unterstützend eingreifen».
Pathos als Antrieb
Ob Herzog mit dem Video-Material des von seinen Bären-Freunden aufgefressenen «Grizzly Man» eine Art Streitgespräch über esoterische Naturliebe und die gelungene Selbstheilung eines Junkies führt, oder ob er blinde Krokodile in einer Grotte filmt – fast immer packen einen seine Bilder unerwartet.
«Dass Sie als Publikum auf einmal Anklang an einen Film empfinden, kommt daher, dass sie eine Weltsicht erkennen, die ihnen nicht so bekannt war.» Er wecke Bilder auf, die sowieso bekannt seien. «Ich erfinde sie ja nicht.»
Mensch und Pathos
Werner Herzog sucht Grenzerfahrungen und hat keine Angst vor Pathos. Als Beispiel dafür führt er die Sixtinische Kapelle an: «Das Grossartige daran ist, dass wir zum ersten Mal menschliches Pathos auf eine Weise gezeigt kriegen, wie wir es zuvor nie gezeigt bekommen haben.»
Menschliches Pathos habe es aber schon bei den Neandertalern und in der römischen Antike gegeben, sagt Herzog. «Michelangelo war aber als erster in der Lage, das auf eine Weise sichtbar zu machen, wie sie in allen da ist und uns zusammengehörig macht.»
Die Frage, ob er sich auch mit 76 noch auf der Suche befinde, verneint Herzog. Das sei gar nicht mehr nötig, sagt er lächelnd: «Die Sachen, die ich mache, kommen mit grosser Vehemenz auf mich zu.»
Es sei nicht so, dass er die Karriere planen würde. «Ich will», sagt Herzog, «die Welt darstellen, sehen und auch verwandeln. Das ist es, was Kino doch auch ausmacht.»