Es ist ein tragischer Jagdunfall: Der Hirt Xeudi erschiesst aus Versehen seinen besten Freund Reiman, weil er ihn für ein Wildtier hält. Fortan streift Xeudi todunglücklich über seine Alpenwiesen und durch Bergwälder. Eine klassische Alpensage? Fast – denn der Film «Die Sage vom alten Hirten Xeudi und seinem Freund Reiman» ist eine Rock-Oper. Gedreht im Jahr 1973 von Hans-Jakob Siber.
Keine Schweizer Filmgeschichte ohne Berge
Er ist einer von fünf Bergfilmen, die in der Sektion «Histoire du cinéma suisse» an den Solothurner Filmtagen zu sehen ist. Es sind Bergfilme der besonderen Art: «Berg-Experimente» heisst das Programm.
Die Berge gehören zur Schweizer Kinogeschichte – man kann sie auch mit Debatten um zu viel Heimatfilm, Alpenidylle und Swissness im Schweizer Kino nicht wegdiskutieren. Das Schweizerische Alpine Museum in Bern widmet ihnen zurzeit eine begehbare Installation, eine Art Film-Bergtour im Museum unter dem Titel «Die Erweiterung der Pupillen beim Eintritt ins Hochgebirge».
Psychedelischer Bergtrip
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Die Solothurner Filmtage haben in loser Zusammenarbeit mit der Ausstellung in Bern und mit einer Ausstellung im Fri-Art in Freiburg zur Geschichte des Schweizer Experimentalfilms eine kleine Reihe zusammengestellt. Sie zeigt, wie fantasievoll, abwechslungsreich und frech Filmemacher seit den 1970er-Jahren mit dem massiven Erbe des Bergfilms umgegangen sind.
Es sind schon schräge und besondere Werke, die es wieder zu entdecken gibt: Reto Andrea Savoldelli zeigte 1971 an den Solothurner Filmtagen den psychedelischen Selbstfindungstrip eines jungen Mannes in «Stella da Falla»; kreuz und quer geht er durch die Berge, mal ist hoher Schnee, mal Sommer und plötzlich wieder ist er am Meer oder in Amsterdam.
«Der Berg macht blöd»
Der Film löste heftige Diskussionen aus. Drogenerfahrungen und Guru-Spiritualität kamen damals nicht gut an. Jetzt ist eine neue, restaurierte und vom Regisseur und Autor geänderte Fassung zu sehen. Dem Suchenden ist nun per Voiceover ein innerer Monolog zugefügt, der Schluss ist geändert – so habe er seinen Film eigentlich schon damals machen wollen, sagte Salvoldelli im Gespräch.
Von Christian Schocher, dem «Reisenden Krieger» aus Pontresina im Engadin, ist ein echter Alpenwestern zu sehen: wortkarg, stilisiert, wunderbar lakonisch ist «Das Blut an den Lippen der Liebenden» von 1978. Und Peter Liechti, der 2014 verstorbene Filmemacher, der schon immer seine Filme fern aller Konventionen drehte, testete 1986 seine eigene Beziehung zu den Bergen auf einer Reise in die Österreicher Alpen. Sein Fazit des wortwitzigen, bildgewaltigen Kunstwerks «Ausflug ins Gebirg»: «Der Berg zerstört meine Gedanken. Der Berg macht blöd.»
Berge als innere Landschaften
Dass man nicht unbedingt tatsächlich ins Gebirge fahren muss, um einen Bergfilm zu drehen, zeigt der jüngste Film der Reihe: «Gespräch im Gebirg» von Mattias Caduff aus dem Jahr 2000. Caduff ist fasziniert von Paul Celans gleichnamiger Geschichte, die er – wie er eingangs im Film sagt – einfach nicht verstehen kann.
Um ihr näherzukommen, führt er eine Lektüre des Textes vor: Er pinselt in seiner Wohnung den gesamten Text an die Wände, die Wohnung verwandelt sich langsam in eine Berglandschaft. Das Kissen wird kunstvoll zum Matterhorn drapiert, in einem Glas wächst ein künstlicher Kristall und die Badewanne wird zum Silsersee.
Die Schweizer Berge sind nicht nur die grösste Filmkulisse der Schweiz. Sie sind auch innere Landschaften, sie sind identitätstiftend oder -verstörend, sie laden zu Streifzügen und Experimenten ein. Sie sind da, immer, unverrückbar und werden sich wohl immer wieder vor die eine oder andere Kameralinse drängen.