Er sei zuerst Reisender, sagt Wim Wenders von sich, dann Fotograf und erst dann Filmemacher. Seine stärksten Filme kombinieren das alles. Sie stellen Bild und Ton, Wort und Idee über die reine Geschichte.
Wenn der Reisende Geschichten erzählt
Bezeichnenderweise sind aber seine erfolgreichsten Werke jene, die – zumindest im Kern – eine konkrete Erzählung anbieten.
Zum Beispiel jene des übermässig liebenden Wüstenwanderers in «Paris, Texas». Jene des menschwerdenden Engels in «Der Himmel über Berlin». Oder die der kubanischen Musiker im Dokumentarfilm «Buena Vista Social Club».
Dabei kommt Wenders aus der Zeit des Umbruchs im europäischen Autorenfilm. Er hat für sich in Deutschland die «nouvelle vague» und Godard vorweggenommen.
Er ging als Kunststudent nach Paris, um Maler zu werden. Dort landete er in der Cinémathèque française, in der er sich wochen- und monatelang durch die Filmgeschichte schaute. Bis ihm klar war: Er würde nicht Maler sein. Sondern Filmemacher.
Von Paris, Frankreich nach Paris, Texas
Der Filmtitel «Paris, Texas» symbolisiert auch Wenders eigene Reise von der Stadt an der Seine in die offenen Weiten der texanischen Wüste und in die US-amerikanische Kinomythologie.
Mehr als zwei Stunden dauert «Paris, Texas» – und lange passiert fast gar nichts. Doch die Bilder des texanischen Roadmovies bleiben im Gedächtnis, der Film ist ein Instant-Klassiker.
Männer, die von Frauen träumen
Roadmovies waren fast alle von Wenders Filmen vor «Paris, Texas». Immer war da ein Mann unterwegs, oft mit anderen schweigsamen Männern. Und meist waren ihm die Frauen ein Rätsel und ein Traum.
Wenders' Roadmovies der 1970er- und 1980er-Jahre
Film war bei Wenders Bewegung. Leben hiess reisen. Das Ziel war der Weg. Die beiden Männer in «Im Lauf der Zeit» von 1976 sind unterwegs. Sie kämpfen mit der deutschen Geschichte, mit der Filmgeschichte, mit dem Niedergang des Kinos und des Druckereigewerbes. Sie kämpfen mit der Schuld der Väter und der Stummheit der Mütter.
Nach einem Motorradausflug an den Ort seiner Kindheit sagt der von Rüdiger Vogler gespielte Bruno Winter: «Ich sehe mich eigentlich zum ersten Mal als jemanden, der eine Zeit hinter sich gebracht hat, und dass diese Zeit meine Geschichte ist.»
Der Satz ist eine Formel, auf die man Wim Wenders Filmographie seiner ersten 20 Jahre reduzieren könnte. Die Geschichte ist die Zeit, welche man hinter sich gebracht hat. Was Geschichte ist, erschliesst sich nur im Rückblick. Und das Erzählen von Geschichten ist nicht das, was er mit seinen Filmen anstrebt.
Immer unterwegs
Fast 20 Jahre lang waren Wim Wenders und sein begeistertes, verzaubertes Publikum gemeinsam on the road, auf der Leinwand auf Reisen. Am Anfang eine wachsende Anhängerschaft: Sie war fasziniert von diesen Filmen, in denen fast nichts passiert, aber dauernd etwas in Bewegung bleibt.
Fasziniert von den Menschen, vor allem Männern, die über alles Mögliche sprechen. Und dann wieder schweigen, bis sich der eine oder andere Zusammenhang erschliesst.
Zwei Spielarten des Kinos in einem Film
In seinen grössten Spielfilmerfolgen, «Paris, Texas» und «Der Himmel über Berlin» kommen darüber hinaus zwei Spielarten des Kinos zusammen. Jenes, das Wenders selber pflegt, das lyrische, beobachtende, abwartende Kino; und jenes, das er verehrt und liebt – das schnelle, erzählende, mythisch aufgeladene.
Sei dies der amerikanische (Alb-)Traum in «Paris, Texas», die Landschaft, die Musik, die Farben, die Weite, die Einförmigkeit der Bauten, die Endlosigkeit der Strassen und die Entfremdung der Menschen, in dem Fall des übermässig liebenden Travis und seiner Jane.
Oder aber die vergeistigte, schwerelose, schwarzweisse Welt der Engel in «Der Himmel über Berlin», die ihre Tage damit verbringen, die einfachsten Momente im Alltag der Menschen zu wertschätzen. Etwa jene Frau, die mitten im Regen den Schirm zuklappt und sich nassregnen lässt.
Das Versprechen einer Liebesgeschichten
Beide Filme – «Paris, Texas» wie auch «Der Himmel über Berlin» – versprechen eine Liebesgeschichte, erzählen sie auch ein wenig in Andeutungen. Lassen sie am Ende scheitern oder aufgehen. Aber im Herzen bleiben diese Filme in Bewegung, lang über ihr Ende hinaus.
Für eine Weile bewegten sich Wim Wenders und der Zeitgeist parallel. Dann, irgendwann nach der Jahrtausendwende, nahm das Interesse an seinen Spielfilmen ab. Wenders blieb sich treu, erforschte Themen und Kunst und deren Möglichkeiten.
Erfolgreiche Dokumentarfilme
Aber beim Publikum landete er fortan vor allem mit seinen Dokumentarfilmen. Die kubanischen Musiker von «Buena Vista Social Club» (1999), die Geschichte früher Blueser in «The Soul of a Man» (2003) oder dann «Pina», sein bahnbrechender, einzigartiger Dokumentarfilm in 3D über Pina Bausch und ihr Tanztheater – das waren die Filme, die konkret genug waren, um zu packen. Und eigenwillig genug, um zu faszinieren.
Wie viele Künstler hat der junge Wim Wenders seinen Zeitgeist erkannt, verkörpert und umgesetzt. Dafür wurde er geliebt. Und wie jeder echte Künstler ist er sich treu geblieben, älter geworden und hat sich weiterbewegt. Als Reisender. Als Fotograf. Als Filmemacher. Nun blickt er mit 73 Jahren zurück auf sein Leben und arbeitet weiter.
Und wir blicken zurück auf seines. Auf seine Filme. Und auf unsere Erinnerungen an seine Filme. Und gerade dies macht die Wiederbegegnung mit ihnen so faszinierend. Denn verändert haben sich, im Lauf der Zeit, natürlich nicht die Filme. Sondern unsere Erinnerungen. Und wir.