Warum mir «Wolfenstein II: The New Colossus» so gefiel, lässt sich anhand einer einzigen Szene illustrieren:
Die schwarze Anführerin des New Yorker Nazi-Widerstands, Grace Walker, diskutiert mit unserem Helden William «BJ» Blazkowicz über die Menschen hinter den «Monstern» – den Nazis. Und ganz nebenbei stellt sie im Gespräch klar, dass «having balls of steel» – Stahl-Eier haben – eine völlig unzulängliche Redewendung sei. Das alles, während sie ihrem Kind die Brust gibt.
Vorher und nachher nieten wir mit BJ tausende Nazis, Roboter-Nazis, Glatzenkopf-Nazis und noch mehr Nazis um, wie es sich für die Wolfenstein-Serie seit 1981 gehört – die Serie, die zusammen mit «Doom» das Genre des Ego-Shooters begründete. Der Ego-Shooter-Teil von «The New Colossus» hat mich aber eher kalt gelassen: Zu repetitiv die Kämpfe, zu doof die Gegner, keine Adrenalin-«Glory Kills» wie im letzten « Doom » (2016).
Aber eben: Eigentlich schiesse ich mich nur durch Wellen von Nazis, um mehr von der Geschichte, mehr von den sagenhaft tollen Figuren zu erfahren, die das schwedische Team von MachineGames erschaffen hat. Und um noch mehr aussergewöhnliche Szenen zu erleben, wie die oben beschriebene.
Yellow Submarine mit Nazis
Also, zuerst zur Geschichte: «The New Colossus» schliesst nahtlos an «The New Order» von 2014 an. Wir befinden uns in einer alternativen Realität im Jahr 1961. Die Nazis haben den zweiten Weltkrieg gewonnen und kontrollieren die USA, alle lernen Deutsch und essen Sauerkraut. BJ Blazkowicz erwacht aus einem fünfmonatigen Koma an Bord von «Evas Hammer», einem Nazi-U-Boot, das die Widerstandskämpfer übernommen haben.
Ein bisschen «Yellow Submarine», aber mit Nazis: Vom U-Boot aus organisieren wir den Widerstand, gehen mit BJ auf Missionen, um weitere Aufständische an Bord zu holen und die Herrschaft der Nazis zu stürzen.
Dazu reisen wir ins radioaktiv verseuchte Manhattan, machen einen Abstecher ins ummauerte Ghetto von New Orleans – und fliegen sogar auf die Venus (!). Ja, deswegen gefiel mir «The New Colossus» auch: Die Handlung ist teilweise irrwitzig und überraschend! Gleichzeitig bleibt immer Zeit für Klamauk, aber auch für kluge Gespräche, die mir die Figuren näherbringen.
Kaputter Held, starke Frauen
Ego-Shooter nahmen ihren Anfang mit den Macho-Klischees, die viele Aussenstehende noch heute mit dem Genre assoziieren: muskelbepackter Held, zwei Knarren, viele Gegner, vielleicht eine Trophäen-Blondine zur Krönung. «Wolfenstein II: The New Colossus» dekonstruiert genüsslich jedes dieser Klischees.
Wir starten mit einem psychisch und physisch völlig kaputten BJ Blazkowicz. Er vermag sich nur noch dank eines kybernetischen Anzugs aufrecht halten und befürchtet, dass seine Zwillinge ohne ihn aufwachsen.
Und wer hier das blonde Dummchen sucht, muss alle Klischees begraben: BJ ist umgeben von starken Frauenfiguren, die ihm sagen, was zu tun ist: Etwa die beiden Anführerinnen des Widerstands, Caroline Becker und Grace Walker. Oder seine Partnerin, Anya Oliwa, die ihm per Funk Hilfe leistet und sich hochschwanger noch furchtlos den Nazis entgegenstellt.
Eine erfreuliche Entwicklung: So, wie sich unser Blick auf Frauenbrüste seit den 90er Jahren stark gewandelt hat, sehen wir in «The New Colossus» nun keinen Ego-Macho-Helden mehr. Viel mehr erleben wir ihn gezeichnet von seiner Geschichte und eingebettet in ein Team voller unterschiedlicher Persönlichkeiten.
Make America Nazi-Free Again
Die Figuren sind spannend, noch spannender ist die Aktualität des Games. Im August beispielsweise marschierten Rechtsextreme in der US-Stadt Charlottesville auf, unter dem Motto «Unite the Right», begleitet von Hakenkreuzen, Konföderierten-Flaggen und antisemitischen Rufen.
Die letzten Jahre sahen den Aufstieg der «Alt-Right» in den USA, einer rechtsextremen Strömung, die sich bisherigen konservativen Ideologien verweigert und sich für die Vorherrschaft der Weissen einsetzt. Der Schritt zu Nazi-Ideologien ist klein, die Übergänge fliessend.
Ein Game wie «Wolfenstein 2: The New Colossus» konnte diese Entwicklung nicht voraussehen, dafür sind die Entwicklungszeiten zu lang. Der Handlungsort USA stand schon von Anfang an fest.
Einer der beiden Autoren, Tommy Tordsson Björk, nennt Aufmärsche von Neonazis in seiner Kindheit in Schweden als prägendes Ereignis. Der Publisher Bethesda hat es jedoch verstanden, sich die aktuelle Entwicklung zunutze zu machen. So lautete ein Werbeslogan für das Game etwa «Make America Nazi-Free Again», in Anlehnung an Donald Trumps Wahlkampfspruch «Make America Great Again».
Was ursprünglich die Fortsetzung einer Game-Serie werden sollte, die Nazis als virtuelles Feindbild festlegte, wurde zum hochaktuellen Kommentar auf den Alt-Right-Aufstieg in den USA. Gleichzeitig gibt sich «The New Colossus» Zeit, zumindest in Ansätzen zu ergründen, wie sich jemand den Nazis anschliessen kann: Wir erfahren viel über BJs Vater, der ihn und seine jüdische Mutter psychisch und physisch misshandelte – und seine eigene Frau letztlich an die Nazis verriet.
Relevanter geht es nicht
Als Schiessspiel ist das neue Wolfenstein-Game bloss solider Durchschnitt. Aber in «The New Colossus» geht es um anderes. Das Game schaffte es, mich immer wieder mit seiner Handlung zu überraschen, präsentierte mir klug geschriebene Figuren und spannende, relevante Dialoge. Von solchen Games kann ich nicht genug bekommen!
Und so schoss ich mich durch die Levels, weil ich einfach und unbedingt die nächste Zwischensequenz sehen wollte. Erfahren musste, was den Figuren als nächstes zustösst. Und nicht nur mir dürfte es kalt den Rücken heruntergelaufen sein, als ich die Nazi-Parade voller Hakenkreuze in Roswell sah – und den Aufmarsch der Rechtsextremen in Charlottesville. Das eine im Game, das andere in der Realität.
«Wolfenstein II: The New Colossus» ist ab 18 Jahren und läuft auf Windows, der PS4 und Xbox One. In der Schweiz sind zwei Versionen erhältlich: eine zensierte Fassung für Deutschland, die nur in der deutschen Synchronisation erhältlich ist, sowie eine unzensierte Fassung mit den Originalstimmen.