Wanderungen durch die Schweizer Berge sind oft so: Wir stehen zuunterst am Bergstotzen, vor uns schlängelt sich ein steiler Weg hoch. Eigentlich würden wir lieber kehrt machen, wir schwitzen beim blossen Anblick. Aber wir überwinden uns, setzen Schritt vor Schritt.
In der Mitte halten wir inne, die Aussicht, die Natur nimmt uns schon jetzt den Atem. Wir verstehen plötzlich, warum wir diese Strapazen auf uns nehmen, wandern weiter, finden den richtigen Rhythmus und geben uns der Anstrengung hin.
Und zuoberst auf dem Gipfel blicken wir zurück und denken: «Das war’s wirklich wert!».
Das ist das Rollenspiel «Torment: Tides of Numenera», Schweizer Wanderversion.
Am Fuss des steilen Berges
Denn «Tides of Numenera» ist kein Spaziergang, vor allem für diejenigen, die nicht gerne lesen. Die Welt von «Torment» wird uns in ausführlichen Texten vermittelt, wenn wir auf Figuren und Objekte klicken. Detaillierte Beschreibungen der Figuren, ihrem Verhalten, der Landschaften und Orte – die Welt ist Text. Wem hier der Schnauf nach fünf Zeilen ausgeht, wird mit diesem Game nicht glücklich.
Auch die Grafik ist zweitrangig und etwas angestaubt. Ich fürchtete zu Beginn, wieder ein Nostalgie-Game à la « Pillars of Eternity » (2015) oder « Shadowrun: Hong Kong » (2015) zu spielen. Was es im Grunde genommen auch ist: «Torment: Tides of Numenera» ist der geistige Nachfolger des legendären «Planescape: Torment» von 1999, entstanden durch eine erfolgreiche Kickstarter-Kampagne von 2013.
Auch der Anfang ist steil: Die ersten zwei Stunden verbringen wir damit, unsere Hauptfigur «The Last Castoff» (dt. «die letzte Abgeworfene») zu formen und die Gesetzmässigkeiten der Spielwelt zu lernen. Meine Stimmung sank, als mich das Game mit Regeln, Gepflogenheiten und unverständlichen Konzepten dieser seltsamen «Neunten Welt» bewarf.
Dann kam meine Figur in die erste, grosse Stadt – Sagus Cliffs – und ich hielt in meiner Wanderung inne, verzückt.
Du weisst rein gar nichts
Ich begriff das grösste Leitmotiv der Geschichte: «Wissen». Oder besser: Das Gegensatzpaar von Wissen und Unwissen. Und ab diesem Zeitpunkt begann ich «Torment: Tides of Numenera» zu lieben. Das Gegensatzpaar Wissen-Unwissen zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Game.
Denn diese Welt spielt Millionen Jahre in der Zukunft, die durchsetzt ist mit den Hinterlassenschaften – Numenera – vergangener Zivilisationen. Fast das gesamte Leben dreht sich darum: Forscher, die herausfinden, wie die Artefakte funktionieren. Archäologinnen, die die Ruinen erforschen. Plünderer, die Artefakte jagen. Leute, die dank Numenera immense Mächte erhalten, ohne genau zu wissen, wie sie funktionieren.
Alle Lebewesen, die ich in dieser Science-Fiction-Fantasy-Welt antreffe, versuchen irgendwie, einen Sinn in den Gegenständen, aber auch in den Lebensformen um sie herum zu finden. Als Spielerin bin ich Teil dieser Suche, Unwissen in Wissen zu verwandeln: Wissen, wie diese Welt funktioniert. Was die fremden Erinnerungen bedeuten, wenn meine Figur Gegenstände berührt. Was die «Tides» (dt. «Gezeiten») bedeuten, die zentrale Mechanik des Games. Wer meine Figur eigentlich ist.
0815-Rollenspiel – denkste!
Aber von vorne: The Changing God («der Wandelnde Gott») ist eine uralte Entität, die die Fähigkeit besitzt, immer wieder in neue Körper zu schlüpfen. Uns hat eben der Wandelnde Gott verlassen, und wir werden als «Castoff» gebrandmarkt wiedergeboren, auf der Suche nach unserer Identität. Ah ja, unsterblich sind wir auch. The Sorrow (der Kummer), eine Horrorgestalt, macht jedoch Jagd auf den Changing God und all die wiedergeborenen Abgestossenen.
Bislang klingt «Tides of Numenera» nach klassischem Rollenspielmuster: Grosses Mysterium, das es zu lösen gibt. Eine Tabula-Rasa-Figur, die wir entwickeln können. Fähigkeiten, die wir lernen. Eine seltsame Welt, in der wir Neulinge sind. Aber «Torment: Tides of Numenera» führt eine Mechanik ein, die das Game zu einem der besten Rollenspiele macht, das ich seit langem gespielt habe.
Klassische Rollenspiele – wie das archetypische « Dungeons and Dragons » – haben mehr oder weniger fixe Möglichkeiten, nach welchen moralisch-ethischen Grundlagen meine Figur handelt, etwa «rechtschaffen gut», «chaotisch böse», «neutral gut», oder das klassische «gut» versus «böse». Und meist können wir anhand der Entscheidungsmöglichkeiten erkennen, die uns eine Situation bietet, wie die Konsequenzen aussehen.
Nicht so «Tides of Numenera».
Tides von blau bis rot
Denn das Game hat «Tides» (Gezeiten): Je nachdem, wie wir uns im Spiel entscheiden, leitet uns ein anderer Trend: Wissensdurst (Blau), Emotionen (Rot), Empathie und Nächstenliebe (Gold), Macht und Ansehen (Silber), Gerechtigkeit und das übergeordnete Wohl (Indigo). Und die Entscheidungen, die wir treffen, sind nie eindeutig. Selten können wir die Konsequenzen abschätzen, die die Entscheidung auf uns oder auf unsere Umwelt hat. Oder wie unsere Entscheidung welche «Tide» verstärkt. Wir sehen zudem immer nur die dominierende Tide, nie, wie gerade die restlichen Farben in unserer Persönlichkeit verteilt sind.
Beispiel gefällig?
Ausserirdisches Wesen betrauert sein Exil in einer Bar. Schlimm, schlimm. Wir – listige Schlaumeierin (blau dominiert!) und mit allen Wassern gewaschen – zeigen Empathie und helfen dem armen Ding. Das Wesen ereilt Erleuchtung und die Erkenntnis, dass es jetzt doch zum allmächtigen bösen Herrscher seiner Welt werden kann. Durch unsere Empathie (und unser Unwissen) haben wir also gerade einer Zivilisation den Untergang gebracht, bittegärngschee.
Egal, was wir tun – alles hat Auswirkungen, wir haben keine Möglichkeit, die Folgen genügend abzuschätzen. Wie im echten Leben eben.
Journalistin spielt sich selber
Diese völlige Ahnungslosigkeit vor Entscheidungen – das hat noch kein Game mit mir geschafft. Für einmal zwang mich ein Game, mich blind zu entscheiden, ohne die möglichen Entscheidungswege voraussehen zu können. Wie aufregend!
Und so schreibt James Konzantisi für GameRevolution treffend, dass «Tides of Numenera» eigentlich wie ein sehr ausführlicher Persönlichkeitstest sei. Das zeigt sich auch in meiner Figur, wie ich mit Erstaunen realisierte – sie ist letztlich eine Journalistin, denn fast immer dominiert blau: Der Wissensdurst, mehr über die Welt zu erfahren und alle mit Fragen zu löchern.
Und je länger ich «Tides of Numenera» spielte und das System, die Welt erfasste, desto mehr zog mich die Geschichte in seinen Bann. Oft reflektierte ich im Nachhinein noch lange meine Entscheidungen, die mich vor viel grössere moralische Konflikte stellten, als etwa der Telltale-Klassiker « The Walking Dead » (2012).
Aber nicht nur das: Während all der Aufgaben, die ich löste, wirft mir das Game immer wieder existentielle Fragen entgegen. Was ist Erinnerung? Was bedeutet für uns Fortpflanzung? Was macht eine Gottheit aus? Welchen Stellenwert hat unsere Existenz in dieser Welt? Wie pflanzen wir uns fort?
Lesen, äh: Spielen!
Ja: Die Grafik ist alt und angestaubt. Es gibt sehr, sehr viel zu lesen (1.2 Millionen Wörter). Wer einen identischen Nachfolger zu «Planescape: Torment» von 1999 erwartet, wird wahrscheinlich enttäuscht.
Zugegeben: Meine Stimmung sank die ersten zwei Stunden. Doch: Wer diese Hürde auf sich nimmt und sich da durchbeisst, wird mit einer fantastisch geschriebenen Geschichte belohnt. «Tides of Numenera» geht das immense Wagnis ein, uns eine komplexe Handlung zuzutrauen, und das alles primär in Textform und ohne Zwischensequenzen oder grosse Audio-Dialoge. Also eine steile, anstengende Wanderung, die uns mit grossartiger Aussicht belohnt.
Eine Wanderung, deren Figuren und Entscheidungen noch lange nachhallen. Warum trägt ein Mädchen ihren Gott in einem Stein mit sich? Wie würden wir reagieren, wenn uns der Tod egal wäre? Ist es in Ordnung, Besitz von einer anderen Person zu ergreifen? Dürfen wir Erinnerungen manipulieren? Will ich Nachkommen, wenn deren Geburt mein sofortiger Tod bedeutet? Was sind eure Antworten?
«Tides of Numenera» läuft auf Windows, Mac, Linux, Xbox One und PS4. Es ist ab 16 Jahren.