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100 Jahre Türkische Republik Kunstschaffende in der Türkei: Repression statt Feierlaune

Konzerte werden verboten, Bilder abgehängt und Theaterstücke untersagt: Kulturschaffende in der Türkei sehen wenig Grund zum Feiern. Sie erfahren Repression der Regierung – je länger, je mehr.

Aynur füllt weltweit Konzertsäle. Die Elbphilharmonie in Hamburg genauso wie die Carnegie Hall in Manhattan. Sie bringt kurdische Volksmusik auf die grossen Bühnen der Welt.

Den türkischen Behörden ist die Kurdin aber ein Dorn im Auge. Erst letztes Jahr hat die Stadtverwaltung der westtürkischen Stadt Derince ein Konzert von ihr abgesagt. Begründung: «Unpassend».

Eine Frau im Abendkleid steht auf einer Bühne und hält ein Mikrophon in der Hand
Legende: Sängerin und Musikerin Aynur bei einem Auftritt in Ankara 2022. IMAGO Images / ZUMA Wire

«Wir erleben eine Attacke auf die Kunst und Zivilgesellschaft», erklärt Asena Günal. Sie ist Geschäftsführerin von Anadolu Kültür, einem der wichtigsten unabhängigen Kunst- und Kulturzentren von Istanbul. Die Behörden haben in den letzten Jahren über tausend Stiftungen und Vereine verboten, Verlagshäuser geschlossen und mehr als 135’000 Bücher aus öffentlichen Bibliotheken verbannt.

Unterdrückung der Kulturszene

Prominente Personen aus der Zivilgesellschaft wie Osman Kavala, Gründer von Anadolu Kültür, sind im Gefängnis. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fordert die Freilassung.

Die Zivilgesellschaft ist massiv unter Druck. Am stärksten betroffen sind die kurdischen Gebiete. Seit 2017 geht Präsident Erdogan systematisch gegen die HDP vor, die gemässigte pro-kurdische Opposition.

Im mehrheitlich kurdischen Südosten der Türkei wurden die Gemeinden und Städte von demokratisch gewählten Bürgermeistern und Bürgermeisterinnen der HDP-Partei verwaltet, so Asena Günal. «Sie eröffneten viele Kulturzentren und Art-Spaces, um Plattformen für die kurdische Kultur und Sprache zu schaffen. Es hat sich vieles getan.» 

Diese Entwicklung wurde aber abrupt gestoppt. «Erdogan entliess praktisch alle Bürgermeister der HDP und ersetzte sie mit ihm hörigen Zwangsverwaltern. Diese Zwangsverwalter schlossen alle Kulturzentren wieder, konfiszierten die Archive, stellten die Förderprogramme ein und entliessen kurdische Kulturschaffende.»

Nicht ohne meinen Anwalt

Die Repression in der Türkei kann alle treffen, die Erdogan gegenüber kritisch sind: Menschenrechtler, Journalistinnen, Anwälte.

Es herrsche eine Atmosphäre der Vorsicht, so Asena Günal. «Künstler, aber auch Institutionen üben sich in Selbstzensur. Wir arbeiten zunehmend mit Anwälten zusammen. Anwälte sind nun unsere neuen Freunde. Wir beraten uns mit ihnen, bevor wir einen Film zeigen, bevor wir eine Ausstellung machen, um abzuklären, ob diese oder jene Ausstellung möglicherweise die Situation unserer Freunde im Gefängnis verschlechtern könnte. Wir sind vorsichtig geworden.»  

Eine Frau mit lockigen Haaren
Legende: Asena Günal, Geschäftsführerin von Anadolu Kültür, sagt: «Wir erleben eine Attacke auf die Kunst und Zivilgesellschaft». Erhan Arık

Erdogan galt vielen einst als Hoffnungsträger. Als er vor 20 Jahren antrat, demokratisierte er das Land, führte EU-Beitrittsgespräche. «Es war eine optimistische Zeit. Das ist längst vorbei», so Günal. Seit 10 Jahren baut Erdogan die Türkei um, die Justiz ist in weiten Teilen politisch instrumentalisiert.

Tägliche Entmutigungen

Die Türkei rangiert punkto Rechtsstaatlichkeit weltweit auf dem hinteren Rang 117. Noch hinter Russland. «Diese Zahl ist unser Leben. Sind unsere Erfahrungen, die wir tagtäglich machen», sagt Asena Günal. Zwar sei die Kunstszene noch immer lebendig und widerständig. «Es gibt aber auch viel Entmutigung.»  

Und so verlassen immer mehr Kunst- und Kulturschaffende die Türkei Richtung Exil.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktualität, 12.12.2023, 07:06 Uhr

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